Tosend-tobender Zusammenbruch
Dafür dichtete er für ein Riesenorchester, das wie im Wahn im Grunde nur immer ein Motiv wiederholt, für Sänger, die an die Grenzen ihrer Ausdruckskraft gelangen (müssen!), für einen Chor, der im Dauerdelirium sich emporwindet, im vierten Satz der Neunten (die anderen drei sind eigentlich nur Präludien): eine strophische Menschheitsverbrüderung – als Katastrophe. Die Musik des „einsamen Revolutionärs“ (wie sein Biograph Jan Caeyers ihn tituliert) dementiert in höchsten, atemlosen, in Dauerunruhe versetzten fiebrigen Tönen, was die Verse Schillers feiern. Insofern ist er, gegen Schiller musikdichtend, doch auch wieder ganz nah bei ihm. Um das ganz zu begreifen, höre man unbedingt Wilhelm Furtwänglers Rundfunkaufnahme der Neunten mit den Berliner Philharmonikern vom 21. März 1942. Wie da mitten im Krieg ein Dirigent, dem viele nach 1945 sein Dableiben in Nazi-Deutschland übel nahmen, der hörenden Nation eine Musik präsentierte, die aus nichts als trostlosem, tosend-tobendem Zusammenbruch bestand, einem einzigen schlagwerkbrutalen Verzweiflungsschrei, einer jubellosen Siegesverhöhnung, die, hätte er dafür Worte gefunden, ihn ins Gefängnis gebracht hätten. Eine musikalische Wehrkraftzersetzung sondergleichen. Dagegen wirken die so gratismutig widerständig sich aufplusternden „historisch informierten“ Pseudodramatik-Neunten unserer Tage ja doch wie dünne Haferschleimsuppen.
Gerhard Stadelmaier
Dr. Gerhard Stadelmaier, Jahrgang 1950, bis 2015 der Theaterkritiker der „Fankfurter Allgemeinen Zeitung“, lebt in Bad Nauheim. Zuletzt erschienen von ihm „Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeists“, der Roman „Umbruch“ und gerade ganz frisch „Don Giovanni fährt Taxi. Novelletten.“