Der romantischste Komponist
Was war es eigentlich, das einem früher die Freiheit genommen hat? „Früher“, antwortet Buchbinder, „hat man ganz genau gespielt. Ge – nau – im – Takt – nach – Vor – schrift“, sagt er und betont die Silben so parodistisch taktgemäß, dass man exakt spürt, was man damals für vorschriftsmäßig hielt. Damals, das war noch zu Buchbinders Studienzeiten. „Ich werde nie vergessen, wie wir als Studenten die Bach-Solosuiten, gespielt von Pablo Casals, hörten und wie entsetzt wir waren: Wie kann man das so frei spielen? Heute verstehe ich das. Auch Bach war ein Romantiker. Es gibt keinen großen Komponisten, der nicht Romantiker gewesen wäre.“ Und erst recht Beethoven. „Er ist“, sagt Rudolf Buchbinder, „der romantischste!“ Das Wort „Wiener Klassik“ sei demgemäß höchst problematisch, ja eigentlich, Buchbinder wird im Espressivo noch deutlicher, „eine der schlimmsten Erfindungen! Haydn, Mozart, Beethoven – die armen Teufel konnten ja nicht wissen, dass sie ,Wiener Klassiker‘ sein sollten, das wurde ihnen erst hundert Jahre später übergestülpt.“ Und damit kamen mehr und mehr auch die Vorschriften auf, sie im angeblich klassischen Ebenmaß gezähmt zu halten.
Espressivo, ein Leben lang
Diese Art von Klassik wird es nicht geben, wenn Rudolf Buchbinder wieder als Beethoven-Interpret in den Musikverein kommt. Dabei scheint es ja, oberflächlich betrachtet, nichts „Klassischeres“ in der Welt der Musik zu geben als einen Buchbinder-Beethoven-Zyklus im Wiener Musikverein. Das Haus für klassische Musik schlechthin, der klassische Pianist für Beethoven, ein Publikumsliebling der Klassikfreunde in Wien mit unerreichten 237 Auftritten im Goldenen Saal, an seiner Seite fünf klassische Orchester vom Feinsten, für jedes der fünf Klavierkonzerte eines mit einem Dirigenten von Weltrang – das verheißt pures Klassikglück. Aber, und darauf zielt Buchbinder ab: Es geht nicht ums Gesicherte, sondern um stets neue Erkundungen im unfassbar großen Beethoven-Kosmos, Explorationen in einem Reich voll Unwägbarkeiten. Je mehr man weiß, umso näher mag man den Geheimnissen kommen, doch an ein Ende gelangt man nie. Im Gegenteil. Türen, die gefunden werden, öffnen neue Wege. Und die beschreitet Buchbinder mit einer Freiheit, die eine Frucht des Wissens und der Erfahrung ist. Und, ja, auch der Leidenschaft, die ihn von Kind an mit diesem Ludwig van Beethoven verbunden hat. Rudolf Buchbinder war gerade einmal elf, als er zum ersten Mal Beethovens Erstes Klavierkonzert im Großen Musikvereinssaal spielte.