Schüsse aus der Deckung
Zwischen diesen Darstellungen liegen Jahre der Um- und Neuorientierung, zwischen ihnen liegt auch eine Schrift, die bis heute Wagners Bild verdunkelt und eine Flut an kritischer Literatur nach sich gezogen hat: „Das Judentum in der Musik“. Wagner veröffentlicht diese Polemik 1850 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, allerdings unter dem Pseudonym K. Freigedank, und zeigt mit dieser „Vorsichtsmaßnahme“, dass er sich der aggressiven Richtung und brisanten, spaltenden Wirkung seiner Publikation sehr wohl bewusst ist. Nochmals potenziert erscheint freilich die Wirkung auf den Leser des 21. Jahrhunderts, der bei der Lektüre Entwicklungen und Ereignisse „mitliest“, die für Wagner selbst noch in weiter Zukunft liegen: den Aufstieg des Nationalsozialismus, die Judenverfolgung, Auschwitz. Kann man Wagner als einem Wegbereiter Schuld zusprechen, muss man ihn als einen in Zeitströmungen Befangenen, der um die historischen Folgen solchen Denkens nicht weiß, entlasten? Diese Diskussion ist noch lange nicht abgeschlossen. Bezeichnend ist allerdings, dass Wagner seiner ideologischen Radikalisierung zuliebe auch persönliche Beziehungen einer tiefgreifenden Neubewertung unterwirft und nunmehr eine bislang verehrte Gestalt wie Mendelssohn seiner jüdischen Abstammung wegen in neuem, negativem Licht sieht. Da auch diese „neue Sicht“ Mendelssohns dessen überragende Befähigungen nicht einfach negieren kann, greift Wagner zu überaus gewundenen Formulierungen: „Alles, was sich bei der Erforschung des Grundes unserer Antipathie gegen jüdisches Wesen unserer Betrachtung darbot, aller Widerspruch dieses Wesens in sich und uns gegenüber, alle Unfähigkeit desselben, außerhalb unseres Bodens stehend, dennoch auf diesem Boden mit uns verkehren, ja gar die ihm entsprossenen Erscheinungen weiter entwickeln zu wollen, steigert sich zu einem völlig tragischen Konflikte in der Natur, dem Leben und Kunstwirken des früh verschiedenen Mendelssohn. Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste und zartempfindendste Ehrgefühl besitzen kann, ohne durch Hülfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, die wir von der Musik erwarten ...“ Und damit wird Mendelssohn für Wagner zum Demonstrationsfall einer verbohrten Theorie, die das „Judentum in der Musik“ konsequent durchzieht: Jüdische Künstler – nicht nur Musiker, sondern auch Literaten – seien unfähig, originäre und „herzergreifende“ Werke hervorzubringen. Kommt Mendelssohn hier noch relativ glimpflich davon, wird gegen Meyerbeer – an den sich Wagner in früheren Jahren vielfach hilfesuchend gewandt hat – ein wesentlich schärferer Ton angeschlagen. Zu Dankbarkeit besteht aus Wagners Sicht kein Anlass.