Die Kraft der Schöpfung
Nach einer Pause für das Publikum zieht sich die „Sinfonie X“ am Beginn ihres zweiten Teils zunächst zurück, verschwindet mit einem langen Decrescendo in der Lautlosigkeit, aus der umso wirkungsvoller der dritte Symphoniesatz, betitelt als Hymnus, hervortritt. In diesem an die Harmonik Olivier Messiaens erinnernden und von Schnebel diesem Komponisten auch gewidmeten Satz kommt auf naturgegebene Weise ein spiritueller Raum zum Klingen. Dieser Hymnus ist nicht von Menschen, hat nichts Feierliches, Pathetisches an sich, sondern klingt aus sich selbst heraus, in erstaunlichen, überraschenden Rhythmen, Tonfiguren und Akkordfolgen. Das ist die Musik einer viel größeren und heilenden Kraft der Schöpfung als die Zerstörungskraft der im Wachstumsdelirium taumelnden Menschheit. „Evolutionen – Involutionen“ enthält der nächste Klangraum, der zum vierten Satz führt: eine Valse, die an Maurice Ravels „La Valse“ anknüpft. Schilderte der Franzose in seinem gewaltigen Orchester-Crescendo, wie die Menschheit zu den Klängen des „Kaiserwalzers“ besinnungslos in den Ersten Weltkrieg tanzt, so bezeichnete Schnebel seine Symphonie-Valse als „ein Bild der Menschheit heute, die sich um sich selbst dreht und keinen Ausweg mehr findet. Es geht nichts mehr von der Stelle. Marcuse hat einmal vom ,Tanz auf dem Vulkan‘ gesprochen. Auf jeden Fall ist Valse eine Katastrophenmusik.“ Ein Totentanz im klanglich auf die Pauken skelettierten Dreier-Rhythmus, der zwischendurch in einen Fünfer-Rhythmus wechselt und dann an den kriegerisch stampfenden „Mars“-Satz aus Gustav Holsts symphonischem Zyklus „Die Planeten“ erinnert.