Geheimnisvolle Faszination
Dass Bachs Vokalwerke in der Nachwelt zunächst einen schwereren Stand hatten, kann nicht verwundern. Sie waren größtenteils dem Gottesdienst gewidmet und schienen das Schicksal zu erleiden, das funktional gebundener Musik seit alters her beschieden war: Sie wird aus aktuellem Anlass geschrieben, aufgeführt und nach einem Wechsel der herrschenden Mode vergessen. Das Bewusstsein dafür, dass auch Musik für die Kirche in einem öffentlichen Konzertleben, das es zur Zeit Bachs noch nicht gab, eine Rolle spielen könnte, entwickelt sich erst im beginnenden 19. Jahrhundert. Der junge Felix Mendelssohn Bartholdy macht in der Berliner Singakademie durch seinen Lehrer, den Goethe-Freund Carl Friedrich Zelter, die Bekanntschaft mit Chorwerken Bachs, die Zelter zwar als „borstig“ empfindet, die aber doch eine geheimnisvolle Faszination ausüben – zumal auf den jugendlichen Chorsänger, der hier den Leitstern seines musikalischen Lebens entdeckt: „So lernte er die Musikwerke kennen und behandeln, welche Zelter – wie einen geheimnißvollen heiligen Schatz – vor der Welt verborgen hielt, für welche sie, nach seiner Meinung, keinen Werth mehr hatten; hier lernte Felix auch einzelne Stücke aus Bach’s Passionsmusiken kennen und sein glühendster Wunsch wurde es, die große Passion nach dem Evangelisten Matthäus zu besitzen, ein Wunsch, den ihm seine Großmutter zu Weihnachten 1823 erfüllte.“ Dies berichtet Mendelssohns Jugendfreund Eduard Devrient; die Begeisterung des jungen Musikers mündet in ein zielstrebiges Bemühen um eine Aufführung, die schließlich am 11. März 1829 in Berlin stattfindet.