Das Romantische schlechthin
Warum aber diese Vorliebe für Gluck? Wiederum ähnlich wie bei Hoffmann: weil dieser Komponist wie kaum ein anderer die Fusion von „aufgeklärtem“ Umgang mit dem mythologisch-musikalischen Material und „romantischer“ Emotionalität „avant la lettre“ in seinem Werk verkörpert. Im Gluck’schen „Tanz der Furien“ erkannte Berlioz eine Vorform des musikalischen „Rausches der Sinne“, wie ihn zusammen mit Berlioz in der bildenden Kunst Eugène Delacroix und in der Lyrik Charles Baudelaire, Edgar A. Poe und Théophile Gautier feierten. Doch war Berlioz’ eigentliches musikalisches Ideal die Oper „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber, für dessen Aufnahme in Frankreich er mehr als jeder andere geleistet hat. In seinen „Lebenserinnerungen“, die zu den anschaulichsten Autobiographien eines Komponisten gehören, die wir haben, schreibt er über sein musikalisches Urerlebnis namens „Freischütz“: Diese Dichtung – gemeint sind das Libretto und die Vertonung – „ist voller Leben, voller Leidenschaft und Gegensätze. Melodie, Harmonie und Rhythmus brausen, lodern und leuchten im Verein.“ In dieser Musikdramatik erkannte Berlioz das Romantische schlechthin, das er wahlweise – wiederum wie Hoffmann – mit Beethoven anreicherte oder mit sakralen Weisen, die nur eines wollen: das Leben heiligen. Denn mit Goethe wusste er: Wie es auch sei, dieses Leben, es ist gut. Auch Lélio sollte dies zuletzt erfahren, jedoch mit einer wesentlichen Akzentverschiebung: Das Leben, es ist gut, sofern es Musik werden kann, denn ohne sie wäre es – wie Nietzsche später bekunden wird – ein bloßer „Irrthum“.
Rüdiger Görner
Univ.-Prof. Dr. Rüdiger Görner ist Professor für neuere deutsche Literatur und Gründungsdirektor des Centre for Anglo-German Cultural Relations am Queen Mary College, University of London. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, so zuletzt, erschienen im September 2018, „Oskar Kokoschka. Jahrhundertkünstler“.