Die Kunst des Geschehenlassens
Wer war Maria? Ein Vorbild für selbstbestimmte Frauen, die ihr Leben mutig in die Hand nehmen? Ein Gefäß für den Gottessohn mit einem Leben ohne Mitspracherecht, das sie schließlich in tiefe Trauer um den gekreuzigten Sohn führt? Maria entzieht sich den Kategorien von Aktivität und Passivität, von Selbst- und Fremdbestimmung, von Machertum und Opferstatus. Als der Engel Gabriel ihr ankündigt, dass sie den Sohn Gottes gebären werde, antwortet sie mit den Worten „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ (Lk 1, 38) Sie willigt beherzt ein in das, was ihr widerfährt, und bejaht ihre Schwangerschaft. Sie ist nicht Objekt und nicht Opfer, obwohl sie sich ihren Lebensweg nicht ausgesucht hat, sondern sie ist, wie Luther sagt, „fröhliche Herberge“ für den Gottessohn. Durch das innere Ja zu der überraschenden Schwangerschaft bleibt sie Subjekt ihres Lebens. Maria beherrscht die Kunst des Geschehenlassens. Sie ist offen für das, was von außen auf sie zukommt, sie stimmt dem zu, was Gott mit ihr vorhat, sie willigt ein in das Fremde und lässt gut sein, was sie nicht versteht. Sie gibt dem Wunder Raum. In den Kantaten Bachs wird der Dialog zwischen dem Engel Gabriel und Maria nicht vertont, aber die Haltung Marias kommt immer wieder zum Ausdruck, zum Beispiel in der sprachlichen Wendung, was Gott „an ihr / an mir“ getan hat. Besonders deutlich wird dies in der Sopran-Arie „Herr, der du stark und mächtig bist“ (BWV 10, Nr. 2). Dort heißt es: „Du hast an mir so viel getan, dass ich nicht alles zähl und merke.“ Dass das Wirken Gottes oft im Verborgenen geschieht, jenseits dessen, was wir rational erfassen und bewusst wahrnehmen können, kommt hier musikalisch zum Ausdruck, indem das Orchester in der Begleitung der Stimme mehr und mehr zurücktritt. Die Haltung des Geschehenlassens wird in unserer Welt der Machbarkeit meist mit Passivität gleichgesetzt und negativ bewertet. Für wertvoll halten viele Menschen nur, was sie selbst bestimmen und bewirken können. Aber vieles im Leben lässt sich nicht machen: die Liebe nicht, die Begegnung mit Gott nicht und das Wachsen der Seele auch nicht. Wer sich von der ganzen Dimension des geschenkten Lebens nicht abschneiden möchte, dem kann Maria ein Vorbild sein.
Christiane Kohler-Weiß
Dr. Christiane Kohler-Weiß ist evangelische Pfarrerin und leitet die Abteilung „Theologie und Bildung“ im Diakonischen Werk Württemberg.