Der gramgebeugte König
Kodály selbst befand sich 1923 überdies in einer misslichen Situation. Nach der Restauration des „Königtums ohne König“ geriet er unter die politisch Verfolgten, denn er war während der kurzen Zeit der Räterepublik zum Vizedirektor der Budapester Musikakademie ernannt worden, und dies hatte ein langwieriges Disziplinarverfahren zur Folge. Und so lässt sich kaum die Vorstellung abweisen, hinter dem gramgebeugten König David der Psalmen den Komponisten selbst zu erahnen: „Als König David Schweres erleidend, grausam bedrängt ward auch von den Freunden, da er im Herzen bitteren Gram trug, niedergebrochen rief er zu Gott empor.“ (Die etwas holprige deutsche Übersetzung stammt vom ungarischen Musikologen Bence Szabolcsi).
Es ist kein Zufall, dass Kodály zu diesem Text gefunden hatte. Er entstand in der Epoche der Reformation in Ungarn, im 16. Jahrhundert, und wurde in seiner ungarischen Version vom Prediger Mihály Vég verfasst, einem reformierten Geistlichen aus Kecskemét. Ungarn im 16. Jahrhundert: Auch dies eine der tragischen, traumatischen Epochen der ungarischen Geschichte, die Zeit der türkischen Invasion, der eine 150-jährige Besetzung des Landes folgte. Und auch damals verstand man die Psalmen Davids als Spiegelbild einer zerrissenen und perspektivlosen Gegenwart. Aktuelle Kriegsereignisse und biblische Geschichten wurden in diesen Gesängen mit Anspielungen auf die Parallelität zwischen dem Volk der Bibel und den verfolgten Ungarn erzählt; ob das Volk daraus Trost und Kraft schöpfte, wie dies der Intention des Autors entsprach, sei dahingestellt, doch zweifellos fungierte die biblische Vorlage hier ebenso als Projektionsfläche für aktuelle Bedrängnis wie Jahrhunderte später zur Zeit des „Psalmus hungaricus“.
Ein Volk des Leidens, ein Volk des Stolzes, ein Volk der unbeugsamen Hoffnung – so wollten (und wollen) sich Ungarn selbst sehen, doch Innen- und Außensicht der eigenen Befindlichkeit sind nicht immer kongruent. Was in Ungarn selbst als Teilhabe an nationaler Identität angesehen wird, stößt außerhalb des Landes nicht selten auf Befremden. Dies reicht bis in die unmittelbare Gegenwart, in der „Orbáns Ungarn“ zum Gegenstand buchfüllender Erörterungen wird und politische Kommentatoren die Eigenwilligkeit ungarischer Politik mit einer Mischung aus Kopfschütteln und Bewunderung zur Kenntnis nehmen.