Carlo Maria Giulini
Eines war für Yannick Nézet-Séguin jedoch klar, seit er mit 13 begonnen hatte, Platten zu sammeln: seine Verehrung für den großen Carlo Maria Giulini. „Ich war bewegt von allem, was er machte.“ Den Anfang machte damals das im Wiener Musikverein mitgeschnittene „Deutsche Requiem“ von Brahms. „Ich war bis ans Herz angerührt von dieser Aufnahme: von der tiefen Einsicht, die sich vermittelte, der Schönheit und Spiritualität.“ Dabei könnte man sich kaum unterschiedlichere musikalische Temperamente vorstellen als den priesterlich ernsten italienischen Grandseigneur und Humanisten mit seiner demütig-spirituellen Haltung dem Kunstwerk gegenüber und aus der Ruhe geborenen, sehrenden Intensität – und den jungen, vor impulsiver Mitteilungslust und -kraft nur so sprühenden Heißsporn aus Kanada. „Ich schrieb ihm über meine Situation und was er mir bedeutete.“ Und so ging tatsächlich ein weiterer Traum für Nézet-Séguin in Erfüllung: In der Saison 1997/98, Giulinis letztem aktivem Jahr, konnte er sein Idol sowohl bei Proben und Aufführungen beobachten, als auch mehrfach privat treffen. „Er hat mich gelehrt, meiner eigenen Arbeit, dem Orchester, der Partitur und dem Komponisten mit Respekt zu begegnen. Es war außerordentlich, die Intensität seines Körpers, seiner Augen und seiner Hände zu erleben.“ Eine prägende Erfahrung für den jungen Mann – weit über musikalisch-technische Aspekte hinaus, wie etwa die Festlegung derStricharten durch den Dirigenten: Giulini kam ja stets mit von ihm eingerichtetem Notenmaterial zu den Proben. „Er wird für mich immer jemand ganz Besonderes bleiben. Er sagte immer, dass Dirigenten Reisegepäck wären. Das ist ihre Funktion: Die Komponisten sind darauf angewiesen, dass ihre Meisterwerke zu den Menschen transportiert werden, und das machen wir. Man darf sich selbst dabei nicht zu wichtig nehmen.“ Dazu zählt eine weitere Regel, die der Mentor seinem Lehrling ans Herz legte, der am Pult stets seinen ganzen Körper einsetzt: „Denke beim Dirigieren niemals an deine Gestik.“