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„Rachmaninow steht meinem Herzen sehr nahe“.

In seinen Porträtkonzerten, die Jewgenij Kissin 2022/23 für die Gesellschaft der Musikfreunde gestaltet, legt der Meisterpianist ein leidenschaftliches Bekenntnis für Sergej Rachmaninow an. Starke Emotionen, die nach den Phasen der Stille umso tiefer wirken.

Ein hochgewachsener, schlanker Herr im eleganten Kurzmantel, der gemächlich die Grünzonen von Prag und Umgebung durchstreift: Das könnte Jewgenij Kissin sein, mit dem wir zumindest über Distanz kommunizieren konnten. Während eines ganzen Jahres – 2020 – hatte er nur zwei Konzertauftritte, erzählt er, jene bei den Salzburger Festspielen. „Dafür bin ich der österreichischen Regierung sehr dankbar, dass sie dies zuließ.“ Doch auch sonst klagt er nicht. „Prag ist ein idealer Ort, um einen Lockdown durchzustehen. Es ist eine schöne Stadt. Während der Pandemie war sie nicht so mit Touristen überlaufen. Noch wichtiger aber ist, dass ich hier von meiner großen, wunderbaren Familie umgeben bin. Gelitten habe ich also persönlich nicht.“

„Rachmaninows Musik hat eine Qualität, die direkt die Menschen anspricht. Da gibt es keine Sprachbarrieren.“

Kissins „Freizeit“ war sehr wohl ausgefüllt. „Ich bin viel zu Fuß gegangen, täglich 15 bis 20 km. Ich habe zwei sogenannte ,Coronavirus-Tagebücher‘ verfasst, auf Jiddisch. Darin ist beschrieben, was ich so machte, aber auch meine Gedanken zu dem, was rundherum passierte, auch Reflexionen über Vergangenes. Vorläufig nur im Internet-Journal ‚Yidish branzhe‘ erschienen, aber irgendwann sollen sie in Buchform herauskommen.“ Die Musik und das gesprochene Wort: Beides scheint bei Jewgenij Kissin miteinander Schritt zu halten. Als weltberühmter Pianist ist er von einsamer Größe, als Literat steht seine Begabung dem aber kaum nach, wenn dies auch nicht einem breiten Publikum bekannt ist. Seine „Vorlesungen“ über Shakespeare sind dem Stammpublikum des Verbier Festivals wohl noch in Erinnerung: stets in druckreifem Englisch frei vorgetragen. Doch in den letzten Jahren hat eine andere Sprache sein intensives Interesse geweckt: das Jiddische. Kissin wuchs mit Russisch als Muttersprache auf, weil seine Eltern so sprachen. Nur die Großmutter mütterlicherseits sprach Jiddisch, was Kissin schon als Kind dazu anregte, sich diese Sprache selber anzueignen. Heute spricht er sie nicht nur hervorragend, sondern verfasst auch Texte und Gedichte auf Jiddisch.

Auch das Komponieren geht ihm gut von der Hand. Seine ersten Stücke, noch im Kindesalter für das geliebte Klavier geschrieben, fanden eine Zeitlang keine Fortsetzung, auch weil sein internationaler Ruhm als Pianist, verbunden mit intensiver Reisetätigkeit, wenig Möglichkeiten ließ. Doch seit dem letzten Jahrzehnt, in dem er das Reisen ein wenig reduziert hat und bei 66 Auftritten jährlich liegt, sind inzwischen vier Kompositionen mit Opuszahl im Druck erschienen und großteils auch aufgeführt.

Nun aber füllt sich der Konzertkalender wieder mit vielen Terminen. Und klar ist: Während der Saison 2022/23 steht für Jewgenij Kissin die Musik Sergej Rachmaninows im Mittelpunkt, weil 2023 der 150. Geburtstag des Komponisten ansteht. „In Russland ist man von Kindheit an von seiner Musik umgeben, umso mehr, wenn man in einer zur Hälfte musikalischen Familie aufwächst (die Mutter und die Schwester Klavierpädagoginnen, der Vater war Ingenieur, Anm.). Daher steht Rachmaninow meinem Herzen sehr nahe. Allerdings meine ich, dass man nicht unbedingt Russe sein muss, um diese Musik zu lieben. Sie hat eine Qualität, die direkt die Menschen anspricht. Da gibt es keine Sprachbarrieren.“ Er schätzt auch sehr die Aufnahmen des Pianisten Rachmaninow, eines der größten überhaupt, wie er sagt, nicht nur bei den Interpretationen seiner eigenen Werke, sondern auch bei Chopin, Mozart, Beethoven oder Grieg – und als Duopartner von Fritz Kreisler.

Im Wiener Musikverein, der Jewgenij Kissin in der Saison 2022/23 ein Porträt mit drei Konzerten widmet, hat der Pianist seinen höchst persönlichen Rachmaninow-Schwerpunkt genau aufgeteilt. Zuerst das Klavierkonzert Nr. 3 mit den Wiener Philharmonikern unter Jakub Hrůša, einem Dirigenten, der während des letzten Jahrzehnts eine beachtliche internationale Karriere hingelegt hat. Im Jänner 2023 dann ein Recital mit Renée Fleming. Ihr gemeinsamer Auftritt im Musikverein 2020 fiel, so wie die folgenden Konzerte der Tournee, dem ersten Lockdown zum Opfer. Jetzt kommen sie mit einem neuen Programm wieder, mit Liedern und Romanzen von Rachmaninow – sein Wunsch an die Sopranistin – sowie Solostücken für Klavier. Auch Kissins drittes Porträtkonzert während des Musikverein Festivals 2023, ein Klavierabend, wird im Zeichen Rachmaninows stehen.

Wenn Jewgenij Kissin sich mit seiner Musik, beim Lernen, Üben oder Komponieren beschäftigt, zieht er sich völlig in sich zurück, kein Laut darf ihn dabei stören. Wie sensibel er auf Töne reagiert, zeigt sich auch darin, dass er, wie er sagt, auch Farben hören kann. Und dies wiederum spiegelt sich in seinem Spiel. Sein Repertoire ist jetzt schon umfangreich und vielseitig, es reicht von der Klassik bis ins 20. Jahrhundert, wobei die große Klaviermusik des 19. Jahrhunderts doch eine tragende Rolle spielt. Sein 50. Geburtstag im Herbst 2021 freilich war Anlass, besonders achtsam über den eigenen Weg nachzudenken. Dazu kam kurz davor der Tod seiner einzigen, lebenslangen Pädagogin Anna Pavlovna Kantor, seit Jahrzehnten auch Mitglied der Familie. Sie wurde 98 Jahre alt und war bis zuletzt für ihn eine wesentliche Orientierungsperson. Sie war bekannt dafür, die individuelle Begabung ihrer Schüler zu erkennen und zu fördern. Dies hat sich bei Jewgenij Kissin, den sie schließlich als Einzigen unterrichtete, hundertfach bewährt.

„Ich bin physisch nicht mehr ganz so kräftig wie früher. Also werde ich in den nächsten Jahren, bevor es zu spät ist, Stücke spielen, die neben allen anderen Qualitäten auch volle physische Kraft verlangen: Rachmaninows ,Études-tableaux‘ op. 33 und seine ,Moments musicaux‘. Von Prokofjew das Erste Klavierkonzert, das ich zwar schon früher gespielt und auch aufgenommen habe, doch bin ich damit nicht glücklich und werde es mir noch einmal vornehmen, auch seine Sonaten Nr. 2 und 7. Auch fühle ich mich jetzt reif, einige von Bachs großen Solokompositionen zu spielen: die ,Chromatische Fantasie und Fuge‘ zum Beispiel.“

Ein selten zu hörendes, überhaupt kaum bekanntes Werk steht auch auf Kissins Wunschliste: das Klavierkonzert in cis-Moll op. 30 aus dem Jahre 1882 von Nikolai Rimskij-Korsakow, die einzige groß angelegte Komposition des russischen Meisters für dieses Instrument. Der Pianist hat bisher auch viel dazu beigetragen, sich für das Schaffen sowjetischer Komponisten einzusetzen. Man denke nur an Tichon Chrennikow, dessen Kompositionen wegen dessen hochrangiger Position im Sowjetstaat oft in ein politisches Eck gestellt und als rückständig kritisiert wurden. Inzwischen beginnt man die kompositorischen Fähigkeiten dieses Komponisten zu schätzen. Mit seinen eigenen Kompositionen hält Kissin sich als Interpret noch vornehm zurück, lässt andere beispielsweise seine Kammermusikwerke spielen und beschränkt sich selbst vor allem auf Überraschungszugaben wie den Tango aus seinen Vier Klavierstücken.

Was sind seine Wünsche an die Zukunft: „Ich hoffe“, sagt Kissin, „lange genug zu leben, um alles spielen zu können, was ich möchte.“

Ein Text von Edith Jachimowicz.

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