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Ein Schwerpunkt mit Musik im Paris des frühen 20. Jahrhunderts

Der französische Dirigent François-Xavier Roth und sein Orchester Les Siècles machen die berühmten Ballettkompositionen von Strawinsky und Ravel, Rimskij-Korsakow und Debussy auf buchstäblich unerhörte Weise lebendig – im Klangbild ihrer Entstehungszeit. Im Musikverein stehen sie 2022/23 im Zentrum eines eigenen Programmschwerpunkts: Paris tanzt! Bewegung kommt da auch mit weiteren Programmen ins Spiel: von Kammermusikkonzerten über Wort-Musik-Projekte bis zu Konzerten für Kinder und Jugendliche.

Es ist eine ganz besondere Originalklang-Truppe, die François-Xavier Roth, der 1971 in Paris geborene Sohn des Organisten Daniel Roth, im Jahr 2003 gegründet hat. Sein Ziel war es, Musik aus fünf Jahrhunderten auf den Instrumenten der jeweiligen Zeit stilkundig aufzuführen – inspiriert von Nikolaus Harnoncourt, der dies als „Zukunftsmusik“ beschworen hatte. Was anfangs Utopie schien, entwickelte sich zur Erfolgsgeschichte, die nicht nur auf emsiger Forschungsarbeit, unendlichem Fleiß und einigen glücklichen Zufällen beruht. Die musikantische, temperamentvolle Attitüde des Ensembles und seine spürbare Freude am musikalischen Abenteuer machen die Aufführungen stets zum Erlebnis.

Besondere Verdienste haben Roth und sein Orchester für das Repertoire des frühen 20. Jahrhunderts erworben, konkret auf dem Gebiet jener Meisterwerke, die die Komponisten für den legendären Impresario Serge Diaghilew und seine Ballets Russes geschaffen haben. Diaghilews spektakuläre Initiative im Zeichen der russischen Tanztradition, begründet 1911 in Paris, wurde in den knapp zwei Jahrzehnten ihres Bestehens von Koryphäen wie Mikhail Fokine, Vaslav Nijinsky, Leonid Massine und George Balanchine geprägt und stellte darüber hinaus ein Faszinosum für Künstler aller Sparten dar.
Mit der Rekonstruktion der Originalfassungen von Strawinskys „Feuervogel“ und „Le Sacre du printemps“ hat François-Xavier Roth mit Les Siècles ein wichtiges Kapitel Aufführungsgeschichte neu geschrieben. Und auch wenn der Dirigent bekennt, dass er persönlich kein Tänzer sei – als französischer Musiker betrachtet er den Tanz als elementaren Bestandteil von Musik überhaupt.

Die Konzerte von Dirigent François-Xavier Roth und seinem Orchester Les Siècles verbinden sich mit einer Reihe von Programmen aus den Bereichen Kammermusik und Education zu einem spannenden Kaleidoskop der Musik im Paris des frühen 20. Jahrhunderts.

Monsieur, in der französischen Musik hat der Tanz seit jeher einen besonderen Stellenwert. Welche Bedeutung hatte das für Ihre Arbeit?
Wie alle französischen Musiker war ich sehr früh mit Tanz konfrontiert, denn er spielt in der französischen Kultur tatsächlich eine wichtige Rolle. Man denke an den unmittelbaren Einfluss von Ludwig XIV. auf Jean-Baptiste Lully. Tänze wie die Bourrée, das Menuett, die Forlane waren im 16. und 17. Jahrhundert von enormer Bedeutung, und man kann sehen, wie diese barocken Formen im kulturellen Erbe auch international fortwirken. In der Praxis habe ich als Flötist bei Ballettabenden an der Pariser Oper mitgewirkt. Als Dirigent habe ich oft Auszüge aus den großen französischen Ballettmusiken aufgeführt, von Camille Saint-Saëns und Léo Delibes, und insbesondere die berühmte Musik zu „Namouna“ von Édouard Lalo, die zu ihrer Zeit die junge Generation der Komponisten, also Maurice Ravel und Claude Debussy, stark beeinflusst hat.

Inwieweit bedarf Musik, die für das Ballett komponiert wurde – konkret die Musik für die Ballets Russes – nicht auch der choreographischen Umsetzung?
Bei diesem grandiosen Projekt der Ballets Russes, wie es Serge Diaghilew am Beginn des 20. Jahrhunderts erträumt, initiiert und organisiert hat, ging es zwar zunächst darum, das Ansehen des russischen Tanzes zu behaupten. Doch dann haben sich die größten Künstler um sein Projekt geschart, Musiker, Tänzer, Choreographen, Regisseure, Bildhauer, Theaterleute … das war ein Feuerwerk, eine künstlerische Epoche von einzigartiger Lebendigkeit, geradezu entfesselt. Über die Strahlkraft von Diaghilew wurde das Ballett zur Anregung für musikalische Meisterwerke, und die können ganz unabhängig von der Szene bestehen, ohne Unterstützung durch die Choreographie – allen voran jene von Strawinsky.

Wie sind Sie bei der Vorbereitung des Projekts „Ballets Russes“ vorgegangen?
Die Idee zu diesem Projekt hatte ich praktisch schon bei der Gründung des Orchesters, da war ich noch Student. Ich dachte mir, dass meine Generation die Möglichkeit haben würde, das 100-Jahre-Jubiläum der Ballets Russes zu feiern. Ich habe unendlich viel zu den Programmen recherchiert, die Diaghilew für die verschiedenen Aufführungen in Paris zusammengestellt hat. Das waren Patchwork-Arbeiten, russisches Repertoire, kombiniert mit Werken, die zu diesem Zweck orchestriert wurden, wie Schumanns „Carnaval“, der in einer Fülle von Bearbeitungen existiert; es gab aber auch Uraufführungen. Ich habe versucht, den Programmen wissenschaftlich auf die Spur zu kommen. Und als wir begonnen haben, diese Musik hundert Jahre nach ihrer Entstehung auf Instrumenten dieser Zeit neu zu entdecken, war das ein gewaltiger Impuls.

Welche Erkenntnisse haben sich aus dem Studium der Originalpartituren ergeben?
Wir waren in der glücklichen Situation, dass die Sacher-Stiftung Kopien der Originalmanuskripte von Strawinsky zum Kauf angeboten hatte – darunter „Feuervogel“ und „Le Sacre du printemps“. Es war faszinierend, die Originalversion von „Le Sacre“ aus dem Jahr 1913 zu rekonstruieren. Gerade diese Partitur war ja seit damals immer wieder stark bearbeitet worden, bis zur „endgültigen“ Fassung, die Strawinskys Verlag Boosey & Hawkes 1947 herausbrachte. Zu sehen, in welchem Ausmaß Strawinsky Änderungen vorgenommen hatte, um das Werk für seine Zeitgenossen leichter spielbar zu machen, war ein wunderbares Abenteuer; da existierten in der Originalfassung weitaus kühnere technische Details. Es gibt zum Beispiel am Anfang des Opfertanzes eine Stelle, bei der die Streicher abwechselnd arco und sul ponticello spielen – das wurde seit 1913 nie mehr gemacht.

Was die Instrumente betrifft, die Sie für dieses Repertoire einsetzen, so liegen die Unterschiede zum modernen Orchester von heute ja vor allem bei den Bläsern …
Da muss ich betonen, dass das Orchester für die Ballets Russes ein französisches, ja ein pariserisches ist, das wir mit restaurierten Originalinstrumenten wieder hergestellt haben. Es gab in Paris nämlich eine eigene Fabrikation, für die Bläser, aber auch für Klaviere, Harfen und Perkussion. Diese Instrumente waren berühmt für ihr typisches Kolorit und für diese spezifische Schärfe der Artikulation, die man nur mit ihnen erzielen kann. – Das Ergebnis war überwältigend. Das Klangbild und die Ausdruckskraft der Musik waren für uns geradezu erschütternd. Wie sich die Farben der Bläser mit dem Klang der Darmsaiten vermischen, ist immer wieder faszinierend. Auch die dynamischen Schattierungen und die musikalische Rhetorik lassen sich viel leichter realisieren als mit modernen Instrumenten.

Wie würden Sie die Philosophie von Les Siècles beschreiben?
Bei seiner Gründung war das ein utopisches Projekt, das ich dank der zukunftsweisenden Aussage eines der größten Musiker des 20. Jahrhunderts gewagt habe. Es war Nikolaus Harnoncourt mit seinem prophetischen Satz, dass der Musiker des 21. Jahrhunderts fähig sein würde, am Vormittag ein Stück von Berlioz auf einem modernen Instrument und am Nachmittag die Chaconne von Bach auf einem Instrument des 18. Jahrhunderts stilistisch korrekt zu spielen. Als ich das gelesen habe, dachte ich mir: Genau das ist das Orchester der Zukunft! Es kann wie ein Schauspieler, der die Kostüme wechselt, über die Epochen hinweg die Instrumente wechseln, ohne sich auf ein Instrumentarium zu beschränken, und dabei für jede Zeit die adäquaten Spiel- und Ausdrucksweisen finden.

Und in welche Richtung planen Sie als nächstes?
Wir haben viel vor. Wir wollen uns künftig wieder stärker mit Mahler beschäftigen, mit Schumann, Bruckner und Wagner, also unser Repertoire um Werke erweitern, die jenseits der Rheingrenze entstanden sind, und wir wollen das Zeitgenössische stärker berücksichtigen. Wir arbeiten weiterhin an den großen Achsen, die für das Orchester einfach wichtig sind, wie Berlioz und Beethoven. Und ich denke, dass auch die Aktivitäten im Opernbereich für Les Siècles künftig an Intensität gewinnen werden.

Das Gespräch führte Monika Mertl.

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