Jean-Antoine Watteau schuf um 1718/19 eine Ikone der Rokoko-Malerei, genannt „La Surprise“. Am Maßstab der Rokoko-Ästhetik gemessen, besteht die „Überraschung“ dieses Gemäldes in der sinnlichen Intensität, mit der Watteau die Umarmung des Liebespaares darstellt, ebenso die Dynamik der Mezzetino-Figur aus der Commedia dell’Arte, die ihre Gitarre stimmt, um sich in diese Liebesszene, isoliert auf verlorenem Posten bleibend, einzustimmen. Das Bild fängt eine rauschende Bewegung ein. Statisch wirkt nur ein kleiner Hund, der die Szene beobachtet. Überraschung ist hier zweierlei: der Kuss und das Auftreten des Mezzetino. Überraschend ist auch, dass der Gitarrist zu seiner künftigen Melodie bereits zu tanzen scheint, denn das Bild zeigt ihn ja beim Stimmen seines Instruments.
„Surprised by Joy – impatient as the wind“, wie Wordsworth dichtete; C. S. Lewis, einst ein Schriftsteller mit Millionenauflagen, heute allenfalls noch bekannt als Verfasser des Epos für Kinder, „Die Chroniken von Narnia“ (1950), erfolgreich verfilmt mit Tilda Swinton in einer der Hauptrollen (2005), Lewis also wählte diese Formulierung von Wordsworth, jedoch ohne den Zusatz „ungeduldig wie der Wind“, als Titel für seine Autobiographie. Diesen Augenblick des Überrascht-Werdens durch Freude beschreibt er als den Moment seiner Konvertierung vom Atheismus zum christlichen Glauben, ein Umkehrpunkt im Lauf des Lebens.
Noch einmal gefragt: Wie wird die Überraschung zum Kunstgriff, der zudem darin besteht, etwas zu schaffen, das anhaltend aufmerken lässt und sich nicht in seinem Überraschungswert verbraucht? Die Überraschung ist das Unvermutete. Ob Komponist oder Couturier (Modekreationen leben Saison um Saison von leibhaftig tragbaren Überraschungen!), Dichter, Bildkünstler (von Installationen vor allem!) oder Regisseur – es muss ihnen gelingen, mit einem Einfall das Publikum zu verwundern, das abgenutzte Kunstkonsumverhalten jäh zu durchbrechen. Wenn wir als Hörer oder Betrachter, als Leser oder Warenkunden für einen auch längeren Augenblick aufmerken, dann ist die Überraschung gelungen. Wir brauchen Überraschungen, um nicht zu verdämmern, um zu spüren, was ein Reiz ist, ohne dass die Kunst den Reiz überreizt. So scheitert eine Inszenierung, die eine Überraschung nach der anderen bietet. Wer nur noch überrascht, enttäuscht. Auch für allzu bemüht bereitete Überraschungen, ob auf der Bühne, im Kunstwerk oder im Privaten, gilt Goethes Wort im „Tasso“: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“ Vermutlich bemüht sich deswegen unser Mezzetino so sehr darum, spielerisch seine Gitarre zu stimmen, damit sein überraschendes Hinzukommen zu dieser Watteau’schen Liebesszene stimmig bleibt.
Rüdiger Görner
Univ-Prof. Dr. Rüdiger Görner ist Professor für neuere deutsche Literatur und Gründungsdirektor des Centre for Anglo-German Cultural Relations am Queen Mary College, University of London. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher – u. a. über Hölderlin, Goethe, Nietzsche, Trakl, Rilke,Thomas Mann und Oskar Kokoschka – und zuletzt „Romantik. Ein europäisches Ereignis“.