Ihn erwartet in München eine ganz andere Mission: Für eine bestehende Konzertkultur muss hier das Eigene gleichsam neu erfunden werden, darf nicht die lokal veränderte Fortsetzung von Rattles Weltruhm sein – das ist wichtig bei diesem als „Everybody’s Darling“ beliebten Star-Dirigenten. Wie kann Rattle aus dieser Aura heraustreten? Entscheidende Einblicke, um das Talent Rattle zu verstehen, gibt ein Interview mit seinem wichtigsten Mentor, dem britischen Ausnahme-Dirigenten John Carewe, der den ungeheuren musikalischen Eros Simons erkannte und die Verve, mit der er ans Werk geht – ihn aber analytisch herausforderte und ihm zeigte, wie Musik Bedeutung gewinnt und Interpretation zur unverwechselbaren Sprache wird. Große Chance: Rattle kann mit den Bayern Einzigartigkeit entwickeln und Strukturen setzen, die das geliebte Bild von ihm als Sympathieträger auch einmal durchkreuzen können, um das Publikum nicht zuletzt sogar konfliktbereit zu machen im Umgang mit Vergangenheit und Zukunft.
Rattles Münchner Vertrag beginnt 2023, in London bleibt er präsent seinem LSO als „Conductor Emeritus“; in Berlin will er, der erklärte Brexit-Gegner, weiterhin leben, und nicht im europafeindlichen England. Die ersten musikalischen Zeichen, die Rattle nach seiner Wahl in München setzte, könnten irgendwie vermuten lassen, dass er in diesem Moment zu seinen Anfängen zurückschaut, um sich dorther die Kraft zum neuen Entwurf zu holen: Denn dieser Star begann seinen Weg fünfundzwanzigjährig eben in Birmingham beim City of Birmingham Symphony Orchestra und machte das Orchester durch zwei Jahrzehnte groß in seiner Öffnung zum Neuen wie dem steten Dialog mit der Tradition – man fuhr im London der Achtziger nach Birmingham, wenn man progressiv sein wollte, und ließ sich den Horizont erweitern vom jugendlich-feurigen Simon Rattle, der mit geradezu überwältigender Passion zum Mittler wurde. Vielleicht tankt Rattle gerade jetzt in dieser seiner Jugend auf, in der Zeit etwa, als er die Birmingham Contemporary Music Group gründete, die unerhört Schule machte.
Oder vielleicht setzt er in Bayern, zumal mit dem Rundfunk im Rücken, bei einem kühnen Projekt an, das er während seiner Londoner LSO-Jahre initiierte, um musikalischem Nachwuchs die Türen zu öffnen, gerade wenn die Jungen aus Verhältnissen kommen, die keine Ausbildung je finanzieren könnten und somit chancenlos blieben: Rattles „East London Project“ eröffnet ihnen Bezirk für Bezirk den Weg zur Musik und bietet kostenlose Ausbildung – East London, das sind die klassischen Quartiere derer, die nicht auf der Sonnenseite leben. Sir Simons Herkunft muss diese enorme Motivation bei ihm gezeitigt haben; denn er kommt aus Liverpool, wo kein West-Londoner Glanz, sondern das härteste Arbeiter-Milieu zu Hause ist. Das Projekt gilt als vorbildlich und könnte auch im reichen Bayern systematisch musikalische Zukunft haben.
Dass er unweigerlich seine Akzente setzt, hat er nach seiner Wahl außer Zweifel gelassen und sich bereits mit einem kompakten Konzertangebot im Rahmen der „musica viva“ eingeführt und programmatisch mögliche Zukunft konkret demonstriert mit Orchester wie Chor: im Doppelabend zunächst die Uraufführung von Adámeks neuem Opus „Where are you?“ – realisiert in der enormen Mezzo-Partie von Gattin Magdalena Kožena, inhaltlich aufs engste verknüpft mit „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ von Messiaen: Gottsuche gegen Heilsgewissheit. In der zweiten Phase „in vain“ von Georg Friedrich Haas: einstündiges Instrumentalwerk über Werden und Vergehen, und das gleichsam im Gespräch mit Purcells Chorwerk „Begräbnismusik für Queen Mary“. Ein zeichenhafter Beginn? Signal durchaus auch ein weiteres Programm, das den Reigen von Sir Simons Lieblingen bot: Brahms, Strawinsky, Haydn – womit er auch die brillante Bläsersektion des BR-Orchesters ehrte.