Säkular und spirituell? Das ist interessant.
Aber so ist es. Die Spiritualität wurde über Jahrtausende von irgendwelchen Konfessionen und Religionen vereinnahmt, was schon a priori komplett falsch ist. Eine religiöse Spiritualität ist ein Widerspruch in sich. Denn Spiritualität ist in meinem Verständnis etwas höchst Individuelles. Es kann nichts anderes sein. Wann immer sich ein Mensch mit seinem Menschsein auseinandersetzt, wenn er etwa meditiert, wandern geht oder was auch immer tut, ist er in einer säkularen spirituellen Praxis. Aber kein Pfarrer, kein Yogi oder Sektenführer kann mir etwas über meine Spiritualität sagen. Das geht nicht. Jeder muss sich selbst in diese Auseinandersetzung begeben. Darum kann ich auch keinem meiner Studierenden etwas dazu sagen. Ich kann ihm nur sagen, wenn ich ihn erkenne. So wie das bei mir mein Publikum tut.
Was tut das Publikum mit und bei Ihnen?
Sie fragen nach der Aufgabe des Publikums im Prozess der performativen Kunst?
Wenn Sie so wollen.
Das Publikum nimmt mir das Zuhören ab. Wenn ich singe und mir selbst zuhöre, verunmögliche ich es mir, im Augenblick zu sein. Dann bin ich in der Vergangenheit. Ich aber suche die Gegenwart. Wenn wir im Kunstschaffen nicht die Illusion der Gegenwart hätten, wäre alles sinnlos. Dann könnten wir uns genauso gut Aufnahmen von gestern anhören, jede Performance wäre bedeutungslos. Indem das Publikum zuhört, schottet es den Künstler von der Vergangenheit und der Zukunft ab. Er kann im Moment sein und aus sich heraus schöpfen. Nur darauf kommt es an.
Und was passiert, wenn Sie singen und Ihnen niemand zuhört?
Wenn ich übe und mich vorbereite, sind das ganz spezielle Situationen. Jeder performative Künstler wird Ihnen bestätigen, dass der Moment der Aufführung ganz andere Dimensionen hat. Dann geht es ums Loslassen, ums Hergeben. Deshalb ist es auch sehr gewöhnungsbedürftig, ein Stück in einem Studio aufzunehmen, denn da singt man nur in ein Mikrofon. Das ist durchaus schwierig, weil man mit Zuhörern, die gar nicht da sind, eine echte Kommunikation herstellen muss. Man muss sich das Publikum quasi in das Mikrofon denken.
Aber sind Sie nicht noch mehr auf sich zurückgeworfen, wenn Sie in Ihrem Kämmerchen beginnen, ein neues Stück einzustudieren?
Im Prinzip ja. Wobei in dieser Phase gibt es meist noch nichts (zu)zuhören. Wenn ich vor den Noten sitze, beginne ich ja nicht sofort zu plärren. Vielmehr spüre ich in mich hinein, was das Stück mit mir macht, was es mir bedeutet.
Kommt es vor, dass Sie nichts spüren?
Ja.
Und was dann?
Es gibt immer wieder Überraschungen. Es gibt Stücke, die man unterschätzt oder einfach nicht versteht. Es gibt Stücke, mit denen ich vor fünf Jahren überhaupt nichts anfangen konnte, und heute begreife ich sie und finde sie gigantisch. Solange man sich entwickelt, wird einem das passieren. Das ist übrigens ein Aspekt des Älterwerdens, der mich beglückt: Jedes Jahr finde ich den Frühling, wenn er dann kommt, toller. Die erste Blüte am Baum geht mir so nah, dass ich es gar nicht beschreiben kann. So ist es auch mit manchen Werken, die ich heute gar nicht ertragen kann, weil ich sie als so stark empfinde.
Zum Beispiel?
Frank Martin, die „Jedermann“-Monologe, die habe ich während der Pandemie erstmals gesungen und hatte größte Freude daran. Auf einmal eröffnete sich mir etwas. Bis dahin ist mir dieser katholische Schluss immer sehr auf die Nerven gegangen. Aber nachdem ich mittlerweile so eine Klarheit über meine Spiritualität habe, kann mich das Katholische nicht mehr irritieren.
Sind Sie katholisch geprägt?
Ich wurde protestantisch getauft, bin aber aus der Kirche längst ausgetreten. Ich bin, seitdem ich ein selbständig, vernünftig denkender Mensch bin, ein Atheist. Aber ich bin kein katholischer Atheist, sondern ein umfassender. Ich glaube weder an Jehova, Zeus oder an Chaac, den Regengott der Mayas. Dennoch kann ich Texte aus dem Alten Testament oder von Hofmannsthal singen, die übrigens großartig sind. Und ich freue mich auf all das, was auf mich vielleicht noch zukommen wird. Der ganze Wagner wartet noch. Heute interessiert er mich nicht. Aber vielleicht höre ich als Opa den „Ring“ und frage mich, wieso ich ihn zuvor noch nicht begriffen habe. Das auszuschließen wäre geradezu schwachsinnig.
Es geht beim Einstudieren ums Verstehen und Begreifen, sagen Sie. Was genau muss begriffen werden?
Das, was gemeint ist! Um diese Frage geht es! Ich kann mich auch an eine Probe der Mozart-c-Moll-Messe mit Nikolaus Harnoncourt erinnern. Er sagte zum Concentus Musicus: „Kinder, ihr spielt, was in den Noten steht. Das ist scheußlich.“ Und er hatte völlig recht. Das reicht nicht. Wenn ich mir vorstelle, wir würden Bach, Beethoven oder Mozart in ihrer Weltwahrnehmung und ihrem Schaffen auf schwarze Punkte auf fünf Notenlinien reduzieren, wird mir angst und bang.
Stimmt, nur: Wenn es darum geht, herauszufinden, was gemeint ist, kommt mit Sicherheit jeder Künstler zu einem anderen Ergebnis.
Zum Glück!
Und wo ist die Grenze zur Beliebigkeit?
Die Grenze ist dort, wo einer unehrlich und unredlich wird. Wenn ein Dirigent, ein Musiker, ein Sänger posiert und nicht das authentische Bedürfnis hat, zu ergründen, sondern nur nach Effekten heischt, ist das fürchterlich eitel. Und Eitelkeit ist der wahre Dämon.
Das Gespräch führte Judith Hecht.
Mag. Judith Hecht ist Juristin und Journalistin bei der „Presse“, wo sie für das Sonntagsinterview „Letzte Fragen“ verantwortlich ist.