Alle Hymnen dieser Welt
Nach dem starken Akzent, den Igor Levit im Musikverein Festival 2022 setzt, widmet ihm die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 2022/23 ein umfassendes Porträt.
Man könnte banal beginnen. In erzählerischem A-Dur: Alles über Igor Levit. Doch Levit hasst das Wörtchen „man“. Er braucht Menschen um sich, Individuen mit Meinungen und Profil. Er möchte sie mit Namen ansprechen. So, wie er auch Dinge beim Namen nennt. Abgesehen davon: Mit biographischen Fakten wäre dieser Künstler ohnehin nicht zu erfassen. Und: Er behauptet, an seine Kindheit in Russland keine Erinnerung zu haben.
Mutter Elena, eine Pianistin, die mit ihrem Mann und der älteren Tochter im russischen Gorki (Nischni Nowgorod) lebte, erinnert sich hingegen gut. Hin und wieder musste sie, wenn sie Auftritte hatte, Baby Igor auf dem Boden unter dem Flügel im Dirigentenzimmer „ablegen“. Als der Sohn zwei Jahre alt war, sang er die Melodie eines russischen Zeichentrickfilms und begleitete sich selbst dazu am Klavier. Mit drei musizierte er eine Bach-Invention. Mit sechs gab er den Solopart des Konzerts für Orgel und Orchester in F-Dur von Georg Friedrich Händel. Wenn Mama den Fingersatz einmahnte, erwiderte er: Schau nicht hin!
Versuchen wir es weiter im Narrativ der Tonarten? F-Dur? F wie Freiheit. Die Eltern entschlossen sich, in Russland alles zurückzulassen, um ein neues Leben für sich und ihre Kinder zu wagen. Man schickte eine Klavieraufnahme Igors nach Hannover, wo die Familie schließlich sesshaft wurde. In der Hauptstadt Niedersachsens konnte Igor seinen jugendlichen Freiheitsbegriff auch pubertär austesten. Das Klavierspiel war ihm wichtiger als die Schule, er habe nur „so viel geübt, wie er gebraucht hat“ und sonst „allen Quatsch gemacht“, so die Mutter.
„Ich habe mir die Partitur aufs Klavier gelegt und erst einmal alles aufgesogen, den Klavierpart und den des Orchesters gleich dazu.“
Igor Levit über seine Auseinandersetzung mit „Tristan“
Binnen kurzer Zeit sprach er perfekt und akzentfrei Deutsch. Sehnsucht nach der alten Heimat empfand er nie. Der Blick zurück passt nicht zu ihm. Vielleicht auch deshalb die fehlende Erinnerung? Die Mutter weiß, dass Igor schon damals mehr wollte, als „nur“ Klavier spielen. Der Jungpianist gewann Preise, erlebte diverse Metamorphosen auf dem steinigen Weg, von dem er nicht immer sicher war, dass er ihn weitergehen wollte. Zu den Serpentinen gehörte, dass ihm Grigory Sokolov als 17-Jährigem „empfahl“, ein anderes Instrument zu lernen. Wie wäre es mit Flöte? Hélène Grimaud war die Erste der „Großen“, die ihm sagte: Du bist besonders. Das bezog sich auf sein Klavierspiel. Auf sein Künstler- und Mensch-Sein.
Seine persönliche Weltsicht teilte Levit jahrelang via Twitter zahllosen Followern mit. Der Kommunikationskanal bot Levit neue Begegnungen, er erkannte aber auch die gefährliche Illusion von Nähe, die das Medium suggeriert, und drückte immer wieder den Stopp-Button. Seine eigenen, oft sehr direkten Aussagen haben ihn wiederholt in heiße Diskurse verwickelt.
In der cool-respektlosen Digitalsprache ausgedrückt, hieße es wohl: User Levit hat einen extrem schnellen Prozessor eingebaut … Er denkt vieles zugleich, vieles im Voraus. Wenn es darum geht, aus einer allzu emotionalen Konzertstimmung wieder zurückzufinden, erzählt er oft rasch einen jüdischen Witz. Während die anderen denken oder lachen, ist er schon ganz woanders.
Sein Gedächtnis erlaubt es ihm übrigens, auch Neue Musik stets aus den Noten heraus, lesend, zu lernen. Wenn er sich an den Flügel setzt, ist der Text bereits „gespeichert“.
An der Musikhochschule in Hannover, wo er einst studierte, unterrichtet Levit mittlerweile eine Kleingruppe von Studierenden. Er verbietet keinem Schüler eigene Ideen, Gedanken. Er fragt höchstens: Warum? Was willst du damit erreichen? Wohin soll die Interpretation gehen? – Über eigene Interpretationen zu sprechen fällt ihm schwer. „Eine Interpretation, was soll das sein?“, fragt er, „ich spiele so intuitiv, wie ich kann …“ Er hege die „utopische Vorstellung des ganz Freien. So unerreichbar dies ist, so wichtig ist es mir.“
Wie in jedem künstlerischen Beruf gilt es, fixe Koordinaten mit dem Idealziel der Freiheit in Einklang zu bringen. So sprechen wir Ende 2021 über das geplante Wien-Programm im Musikverein in der Saison 2022/23: Im September 2022 steht Mozarts C-Dur-Konzert KV 467 auf dem Programm, Franz Welser-Möst wird „sein“ Cleveland Orchestra dirigieren. Levit: „Zu Franz habe ich ein sehr enges Verhältnis, er ist ein integerer, wunderbarer Mensch und Musiker, wir sind einander sehr nahe. Ich habe mit ihm Brahms, Henze und Rachmaninow – die ,Paganini-Rhapsodie‘ – gespielt, so haben wir uns gemeinsam gefragt, worauf wir jetzt Lust hätten. Es war Mozart! Mit Möst würde ich auch ein Klavierkonzert, bestehend aus allen Hymnen der Welt spielen, jeden Ton!“, schwärmt der Pianist, der mit seinen Programmierungen nach dem Beethoven-Jahr, seiner Einspielung aller Sonaten und nach einem Beethoven-Podcast, sich auch gerne wieder „ein wenig weg von Beethoven“ bewegt.
Bei der Programmierung von Henzes „Tristan“ wiederum war es Musikvereins-Intendant Stephan Pauly, der Levit auf den Komponisten ansprach. Levit: „Ich habe dieses Stück bereits vor Jahren studiert, aufgeführt und lieben gelernt. Die Durchdringung der Partitur hat mich während eines Dreivierteljahres viel Energie gekostet, ist aber schlussendlich sehr wertvoll für mich geworden. Diesen ,Tristan‘ spiele ich nicht oft, es ist daher eine spezielle Freude für mich, wenn man ihn mir anbietet.“ Eine Freude ist das genauso auch für den Musikverein, denn Igor Levit wird Henzes „Tristan“ im Festival des Musikvereins spielen, das von einem zentralen Objekt der Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde inspiriert ist – von einem Löffel, mit dem Beethoven seine Medizin zu sich genommen hat. Das ganze Festival lässt sich von diesem Objekt programmatisch inspirieren: Themen wie Stärkung, Heilung oder Veränderung durch Medizin, durch Tränke, Liebes- und Zaubertränke spielen eine wichtige Rolle. Dass dies nun genau auch Motive sind, die den Tristan-Stoff durchdringen, sei es bei Gottfried von Straßburg, bei Wagner oder bei Henze, liegt auf der Hand – und so gesehen ist Igor Levits Konzert ein ganz zentrales Element des Festivals im Musikverein.
Im Mai 2023 folgt ein Solo-Klavierabend. Unter anderem wird Levit ein neues, eigens für ihn komponiertes Werk von Fred Hersch vortragen, „Variations on a Folk Song“. Auch hier spielen sehr persönliche Beziehungen eine Rolle. Levit: „Hersch ist für mich ein Idol, als Mensch und als Musiker. Einer der größten Jazzpianisten der Welt, den ich durch Zufall vor einigen Jahren in New York mit seinem Trio kennengelernt habe. Dieses Konzert war eine vollkommen neue Musikerfahrung für mich. Als Zugabe spielte er von Billy Joel den Song ,So it goes‘. Mit einer Natürlichkeit, als ob man mit dem Klavierspiel permanent Ausatmen würde. Das hat mich zum Weinen gebracht. Ich habe Hersch gefragt, ob er für mich schreiben würde.“ Hersch schrieb. Die Überschreitung von sogenannten „Genre-Grenzen“ ist Levit „egal“.
In diesem Solo-Programm spielt er auch das Vorspiel zu Richard Wagners „Tristan und Isolde“ in einem Arrangement von Zoltán Kocsis. Levit: „Es endet mit drei einzelnen Tönen im Bass. Genau so beginnt dann die h-Moll-Sonate von Liszt, die ich anschließend spielen werde.“
Levit liebt solche offenen oder verborgenen Assoziationen. Und er liebt Veränderungen, Unerwartetes. Teil seiner Persönlichkeit ist es, genau durch jene Türen hindurch zu wollen, die gerade geschlossen sind. Die Corona-Pandemie hat nicht nur ein Tor zugeschlagen. Notwendige Organisationskorsette und -abläufe sind in den Corona-Lockdowns zum Teil zerrissen. Levit hat auf seine Art reagiert. Mehr als fünfzig Hauskonzerte, die der Pianist im Frühjahr 2020 von zu Hause aus spielte und via Handy streamte, haben ihn, auch bei jungen, klassikfernen Hörern, bekannt gemacht. Hunderttausende Zuschauer folgten ihm. Sein Buch, das er gemeinsam mit Florian Zinnecker verfasst hat, heißt ebenfalls „Hauskonzert“. Als Levit im Oktober 2020 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde, geschah das auch für seine Beiträge „aus der Isolation heraus“, für sein Spiel, das über Grenzen hinaus ein Miteinander im Lockdown ermöglichte. Und für sein (gesellschafts)-politisches Engagement.
Wir modulieren in sprachliches E-Dur: Die Worte Engagement, Energie, Eigenwilligkeit, aber auch Ego und: Europäer poppen auf. Igor Levit betont: Er ist Staatsbürger, Europäer und Pianist. Er tut seine Überzeugungen gerne kund. Hin und wieder auch vor Konzerten, obwohl ihm bewusst ist, dass Musik allein politisch nichts bewegen kann. Doch sie bewegt Menschen und kann derart ein gesellschaftliches Klima beeinflussen, davon ist der Künstler überzeugt. Der „Vorwurf“ des Egoismus ist schnell abgehandelt: Natürlich, während eines Konzerts ist der Ausführende Mittelpunkt der Welt, das Publikum hat zu lauschen: „Ich werde dafür bezahlt. Klingt das egozentrisch? Ist es auch. Um in Menschen Gefühle zu wecken, kehrt man als Künstler sein Innerstes nach außen …“
Levit will jene Emotionen übertragen, die in ihm entstehen, wenn er Beethoven, Mozart, Liszt oder auch Henze spielt. Er tut das stets mit überragendem Intellekt, samtener Sensibilität und einer unternehmungsfreudigen Spiellaune. Und im vollen Bewusstsein, dass es eine „Normalität“ nach der Pandemie noch lange nicht geben wird. Vielleicht wird man nie wieder so leben wie vorher. Doch was heißt schon „man“?
Ein Text von Michaela Schlögl.
Jewgenij Kissin
In seinen Porträtkonzerten, die Jewgenij Kissin 2022/23 für die Gesellschaft der Musikfreunde gestaltet, legt der Meisterpianist ein leidenschaftliches Bekenntnis für Sergej Rachmaninow ab. Starke Emotionen, die nach den Phasen der Stille umso tiefer wirken.
Isabelle Faust
Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien widmet Isabelle Faust ein Porträt, in dem sich die deutsche Geigerin in fünf Programmen höchst facettenreich präsentiert: als Solistin mit Orchestern der modernen und der historischen Praxis, als Kammermusikerin, in einem Konzert für Geige und Gesang und in einen Soloabend mit der Barockgeige.
Elim Chan
Ein neues Gesicht im Goldenen Saal: Die hochgelobte Dirigentin Elim Chan aus Hongkong steht in ihrem Musikvereinsporträt unter anderem am Pult des ORF RSO Wien und der Wiener Symphoniker.
Lorenzo Viotti
Lorenzo Viotti, 1990 geboren, gehört in Oper und Konzert zu den meistgefragten Dirigenten seiner Generation. Ihm selbst geht es freilich weniger darum, gefragt zu sein, als vielmehr die richtigen Fragen zu stellen.