Von der integrativen Kraft der Musik: Elīna Garanča und das Projekt „The Power of Music“
Von Markus Siber
24.10.2024
Es werden vermutlich viele Projekte an Sie herangetragen. Warum haben Sie sich entschieden, Schirmherrin der Initiative „The Power of Music“ zu sein?
Da spielen mehrere Komponenten zusammen. Wien hat in meinem Herzen einen großen Platz. Ich fühle mich in Wien sehr wohl, verdanke der Stadt auch beruflich sehr viel. Da fand ich es naheliegend, ein Projekt zu unterstützen, das armutsgefährdeten und benachteiligten Familien, die in Wien leben, in vielfacher Hinsicht unter die Arme greift. Ich unterstütze CAPE 10 schon seit einigen Jahren. Was Prof. Dr. Siegfried Meryn da in der Nähe des Hauptbahnhofs aufgebaut hat, ist bewundernswert. Favoriten ist Wiens einkommensschwächster und gleichzeitig bildungsfernster Bezirk – da tut Hilfe not. CAPE 10 bietet in einem eigens errichteten Gebäude medizinische Primärversorgung für Kinder und Erwachsene auf Kasse an und steuert von hier aus seine umfangreiche Bildungsarbeit im größten Bezirk der Stadt mit fast 220.000 Einwohner:innen. Als sich der Musikverein und CAPE 10 vor einiger Zeit zusammenschlossen, um Kindern aus Brennpunktschulen in Form von Konzerten und Workshops kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, musste ich nicht lange überzeugt werden, dieses Projekt zu unterstützen.
Das Projekt heißt „The Power of Music“. Wie würden Sie die Kraft der Musik an sich beschreiben?
Musik stiftet Zusammenhalt, sie hat das Vermögen, Menschen zusammenzubringen, ganz unabhängig
vom Genre. Denken Sie an Diskotheken, wo sich alle im selben Rhythmus bewegen, denken Sie aber auch an den Weihnachtsabend im privaten Kreis, der – zumindest für mich – ohne Musik unvorstellbar ist. Musik ist vor allem auch etwas ganz Elementares, dessen Kraft in uns allen schlummert. Wenn Sie einem kleinen Kind einen Topf und einen Kochlöffel in die Hand geben, werden sie schnell feststellen, wie es spielerisch zu seinem ganz persönlichen Klangereignis findet. Musik verbindet und gibt gleichzeitig die Möglichkeit, die eigene Kreativität zu entwickeln und zu entfalten – auch das ist eine besondere Kraft. Musik kann in der aktiven spielerischen Ausübung aber auch eine große Ermutigung sein. Das scheint mir im Zusammenhang mit den 400 Kindern, die im ersten Jahr beim Projekt „The Power of Music“ teilnehmen, besonders wichtig.
In Lettland, Ihrer Heimat, ist das Singen, vor allem der Chorgesang, ja etwas sehr Integratives …
Das lettische Liederfest, das alle fünf Jahre in Riga stattfindet, hat eine lange Tradition. Auch im russischen Zarenreich und in der Sowjetunion fand es regelmäßig statt, in den 1980er Jahren ging von ihm die Freiheitsbewegung aus. Dieses musikalische Großereignis mit rund 40.000 Teilnehmenden ist für unser Land identitätsstiftend und hat auch mich als Kind und Jugendliche stark geprägt. Wer in einem Chor wie diesem mitwirkt, fühlt sich von einer großen Gemeinschaft getragen. Im Kleinen kann man diese integrative Kraft der Musik beim lettischen Johannes-Fest zur Mittsommernachtswende im Juni beobachten, wo Nachbarn und Freunde zum Singen und Feiern zusammenkommen.
Ziel von CAPE 10 ist es unter anderem, der sozialen Isolation entgegenzuwirken und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Gab es, wenn Sie zurückdenken, in Ihrem Leben auch Momente, in denen Sie sich etwas im Abseits fühlten?
Als ich Ende der 1990er Jahre nach Thüringen kam, wo meine Karriere begann, konnte ich kein Wort Deutsch. Mit Englisch war nicht viel zu erreichen – und Russisch war so kurz nach der Wende nicht opportun. Um Anschluss zu finden, musste ich also schnell Deutsch lernen. Das Erlernen der jeweiligen Sprache ist meines Erachtens auch eine absolute Notwendigkeit, wenn man in einem anderen Land Fuß fassen will. Das ist eine Frage des Respekts gegenüber den neuen Mitmenschen. Manchen fällt es leichter, Sprachen zu lernen, manchen schwerer – es ist der Wille, der zählt. Am Anfang habe ich wahnsinnig viele Fehler gemacht, aber die Menschen waren sehr geduldig mit mir, weil sie sahen, dass ich es ernst meinte. Mir war es übrigens von Anfang an wichtig, die vielen Dokumente zu verstehen, die mir in Deutschland zur Unterschrift vorgelegt wurden – von der Aufenthaltserlaubnis bis zum Arbeitsvertrag. Wenn man das Kleingedruckte versteht, braucht man keine Sprachprüfung mehr!
Die kulturelle Teilhabe ist ja auch in der Menschenrechtscharta verankert, im Musikland Österreich ist es jedoch derzeit um die musikalische Grundversorgung in den Schulen nicht besonders gut bestellt. Wie ist das im Musikland Lettland?
Leider um nichts besser. Das ist ein Trend, der sich überall beobachten lässt – seit der Corona-Pandemie hat er sich meines Erachtens noch einmal verstärkt, da der Eindruck entstanden ist, dass Musik nicht notwendig sei fürs Überleben. Gleichzeitig ist die Musik aber erwiesenermaßen für das seelische Wohl und für die emotional-psychische Entwicklung des Menschen ungeheuer wichtig, vor allem bei Kindern. Die Verantwortlichen in aller Welt scheinen derzeit nicht zu begreifen, wie wichtig es wäre, wieder mehr in den Musikunterricht zu investieren – ein Investment, das vielfach zurückkommen würde.
Sie kennen Wien seit über 20 Jahren, sind auch oft in der Stadt. Wie erleben Sie Wien heute?
Natürlich merkt man, dass diese Stadt viel internationaler geworden ist. Im Allgemeinen beobachte ich – das betrifft aber nicht nur Wien –, dass eine gewisse Gereiztheit unsere Zeit prägt. Die allgemeine Verunsicherung, die sich unter anderem aus den weltweiten Krisen ergibt, macht vor dem Privaten nicht halt. Das spürt man auch auf den Straßen.
Es ist offenkundig, dass der familiäre Hintergrund sehr wichtig für die Bildung von Kindern ist. Sie hatten musikalische Eltern, heute sind Sie selbst eine berühmte Sängerin. Wie schaut es eigentlich mit der musikalischen Bildung Ihrer eigenen Kinder aus?
Meine beiden Kinder haben fast dreieinhalb Jahre Klavier gespielt – und wahrscheinlich jede Minute davon gehasst. Dennoch war es mir wichtig, es zu probieren, denn jedes Kind sollte die Chance bekommen, aktiv in die wunderbare Welt der Musik einzutauchen. Meine jüngere Tochter ist jetzt auf Gitarre umgestiegen und damit deutlich glücklicher geworden. Mein Mann (der Dirigent Karel Mark Chichon, Anm.) und ich sind aber froh, dass die beiden keine professionelle Karriere im Bereich der klassischen Musik einschlagen werden, weil sie als unsere Kinder unter großem Druck stehen würden. Als Kind von erfolgreichen Musikern weiß ich, wie schwer das sein kann.
Sie werden in der aktuellen Saison auch als Sängerin im Musikverein zu Gast sein. Können Sie sich noch an Ihr Debüt in diesem Haus erinnern? Was verbinden Sie mit dem Musikverein?
Zum ersten Mal diese Bühne zu betreten und die goldenen Karyatiden zu sehen, die man vorher nur aus dem Fernsehen oder von Bildern gekannt hat, ist schon was Überwältigendes. Wenn man dann noch weiß, welche großen Persönlichkeiten hier schon gesungen haben, überkommt einen eine große Ehrfurcht. Ich mag den Saal aber auch ganz besonders als Besucherin, habe viele Konzerte hier erleben dürfen. Ich freue mich, bei meinem nächsten Besuch, dem Mitmachkonzert von „The Power of Music“, wieder einmal im Publikum zu sitzen.
Freitag, 13. Dezember 2024
The Power of Music
Ein kollaboratives Musikprojekt von Musikverein Wien & CAPE 10
unter der Schirmherrschaft von Elīna Garanča
Schulvorstellung
Geschlossene Veranstaltung