Musik ist für alle da: Klaus Mäkelä im Interview
Von Markus Siber
07.11.2024
Können Sie sich noch an Ihr erstes richtiges Konzert erinnern, an das Konzert, mit dem alles begonnen hat?
Das ist gut zehn Jahre her. Ich bekam als 18-Jähriger die Chance, mein Heimatorchester zu dirigieren, das Helsinki Philharmonic, das ich schon gut kannte, weil ich bereits einige Zeit als Substitut am Cello ausgeholfen hatte. Nun stand ich also ganz vorne. Ich dirigierte ein Programm mit Filmmusik, das ich selbst wählen durfte. Erich Wolfgang Korngold war dabei, William Walton, George Gershwin, auch Nina Rota. Es war vor allem ein sehr feierlicher Moment – gar nicht so aufregend, wie man vermuten könnte. Meinem Lehrer, dem großen finnischen Pädagogen Jorma Panula, ist es zu verdanken, dass ich auf alle Eventualitäten vorbereitet war – seine großartige Schule gibt mir bis heute Sicherheit.
Wenn Sie Ihre Anfänge in Oslo, Paris, Amsterdam und Chicago vergleichen – verliefen sie ähnlich?
Es war immer anders. In Oslo und Paris kam es nach den ersten Begegnungen sehr schnell dazu, dass die Orchester und ich uns zu einer fixen Beziehung entschlossen haben. Mit Amsterdam, wo ich ab 2027 Chefdirigent sein werde, fühlte es sich immer richtig an, wir haben es mit der Hochzeit, um bei dieser Metaphorik zu bleiben, aber nicht überstürzt. Mein Debüt in Chicago, auf das ich mich mit vielen Aufnahmen eingestimmt hatte, verlief wirklich wundervoll – es war mir aber dennoch wichtig, in weiteren Begegnungen mit dieser Orchesterpersönlichkeit herauszufinden, welches Entwicklungspotenzial wir gemeinsam haben. Am Ende war für beide Seiten klar, dass wir den Weg gemeinsam gehen wollen.
„Musik soll in erster Linie berühren. Das ist bei Klaus Mäkelä nicht anders als bei allen anderen Menschen auf der Welt. Aber natürlich erwarte ich mir von Musik auch, dass sie mich in besonderem Maße anregt.“
Klaus Mäkelä
Wie bereiten Sie Ihr Debüt bei den Wiener Philharmonikern vor?
Wer vor so ein großartiges Orchester treten darf, sollte natürlich die Partitur kennen und eine klare Vorstellung davon haben, wohin die Reise geht. Viel mehr kann man im Vorfeld nicht tun, denn so vieles hängt von der gemeinsamen Arbeit ab. Ich kenne Mahlers Sechste Symphonie wie meine Westentasche, aber dasselbe können auch die Wiener Philharmoniker von sich behaupten, die sie unter legendären Kollegen aufgeführt haben. Ich freue mich also vor allem auf einen belebenden Austausch unserer jeweiligen Erfahrungen mit diesem Meisterwerk.
Bleiben wir noch kurz bei Mahlers „Sechster“: Was sind die Chancen und Risiken als Debütsymphonie?
Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht. Als die Wiener Philharmoniker mit dieser ehrenvollen Einladung an mich herantraten, war für mich schnell klar, dass ich ein Werk zur Aufführung bringen wollte, das beide – also das Orchester und ich – gewissermaßen im Herz tragen. Aber jetzt, wenn Sie mich so fragen: Die „Sechste“ gilt ja als Mahlers persönlichste Symphonie, geprägt von einer großen Vorahnung späterer Schicksalsschläge. Diese menschliche Dimension erlebbar zu machen ist eine große Herausforderung – aber für den Fall, dass es gelingt, auch ein Erfolg, auf den man stolz sein kann.
Gibt es Stücke, die Sie sich für später aufheben, von denen Sie sagen, dass Sie sich ihnen noch nicht gewachsen fühlen?
Dieser Zugang ist mir fremd. Soll ich zentrale Werke des Repertoires erst in dreißig Jahren dirigieren? Wer weiß, ob ich dann überhaupt noch dazu in der Lage bin. Man muss sich natürlich für ein Werk bereit fühlen, aber das ist aus meiner Sicht keine Frage des Lebensalters. Ich glaube auch, dass man Werken keinen guten Dienst erweist, wenn man ständig behauptet, dass sie sich erst einem Dirigenten über fünfzig voll erschließen würden. Musik ist für alle da, über alle Generationen hinweg. Das Schöne ist ja, dass man sie gar nicht rationell begreifen muss, um trotzdem von ihr berührt zu werden.
Sie dirigieren ja auch immer wieder zeitgenössische Musik. Ist es für Sie reizvoll, ein Stück ohne Interpretationsgeschichte zur Aufführung zu bringen?
Das ist ein guter Punkt, daran habe ich noch nicht gedacht. Es hat zweifellos einen großen Reiz, Neuland zu betreten. Aber ich finde, dass wir auch das klassische Repertoire so spielen sollten, als wäre es in gewisser Weise neue Musik, die man zum ersten Mal aufführt bzw. hört. Wie aufregend muss für Bachs Zeitgenossen ein verminderter Akkord geklungen haben? In gewisser Weise sollten wir uns also bemühen, Beethovens Symphonien so klingen zu lassen, als würden wir sie gerade aus der Taufe heben.
Es gibt viele zeitgenössische Komponist:innen – so viele wie nie zuvor. Was muss ein Stück können, damit Klaus Mäkelä sagt: „Ja, das möchte ich machen“?
Musik soll uns, wie schon gesagt, in erster Linie berühren. Das ist bei Klaus Mäkelä nicht anders als bei allen anderen Menschen auf der Welt. Aber natürlich erwarte ich mir von Musik auch, dass sie mich in besonderem Maß anregt. Vor kurzem dirigierte ich in Oslo das großartige Orchesterstück „Play“ des US-Amerikaners Andrew Norman, das auf eine unglaublich geistreiche Art aufgebaut ist. Das alles bis ins kleinste Detail nachzuvollziehen ist pures Vergnügen. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um eines der besten Stücke unserer Zeit. Ähnlich großartig ist in meinen Augen der Österreicher Thomas Larcher, dessen Zweite Symphonie für mich zu den besten Vertreterinnen ihres Genres seit den 1990er Jahren zählt.
Kann man sagen, dass Sie schon alles erreicht haben?
Davon kann keine Rede sein! Ich denke übrigens viel weniger an meine Karriere, als man offenbar annimmt. Ich möchte so gut wie möglich Musik machen – das ist alles. Einer, der als Musiker in meinen Augen alles erreicht hat, ist Herbert Blomstedt. Er ist eine große Inspiration für mich.
Sie haben viel Erfolg. Was tun Sie, um auf dem Boden zu bleiben?
Es sind die Meisterwerke selbst, die mich beim Dirigieren auf den Boden der Realität zurückholen, mich demütig machen. Wir sind nur die Lehrlinge, die Meister sind die Komponisten. Wenn ich in den Details eines Werkes versinke, denke ich nicht an den Applaus auf der Bühne.
Sie haben Ihr Leben für die nächsten zehn Jahre wahrscheinlich ziemlich gut durchgetaktet. Gibt es noch einen Hauch von Spontaneität in Ihrem Leben?
Ich fühle mich in gewisser Weise dadurch frei, dass Zeitpläne meinen Alltag strukturieren. Ich weiß, was ich vorbereiten muss, was ich dirigiere usw. Dazu kommt, dass ich Musik als etwas sehr Lebendiges begreife. In gewisser Weise bin ich ein Schüler von Nikolaus Harnoncourt, den ich leider nie getroffen habe. Musik ist für mich in seinem Sinne Klangrede. Sie ist frei, sie spricht, sie erzählt eine Geschichte, und das ist es, was ich tue. Am spontansten geschieht das meines Erachtens auf der Bühne.
Sie machen viele Fotos. Was geschieht damit? Haben Sie Alben? Kleben Sie sie ein?
Meine Fotos sind wie Einträge in ein Tagebuch. Ich habe sie auf meinem Handy immer bei mir. Manchmal lass ich meine Fotos ausdrucken und schenke sie Menschen, die mir viel bedeuten. Ein Privileg meines Berufes ist es, dass ich fast täglich unglaublich interessante Menschen treffe. Besonders interessiert mich das Ablichten von Gesichtern aus verschiedenen Perspektiven. Aber auch wenn ich durch die Straßen spaziere, fange ich gerne mit meiner Leica-Kamera bemerkenswerte Situationen ein. Eines meiner Lieblingsfotos stammt übrigens aus Wien: zwei Fiaker-Schimmel, die im Fokus von zwei Buben stehen.
Gibt es irgendeinen Superlativ, den Sie nicht mehr hören wollen?
Ach, wissen Sie: Ein Sprichwort besagt, dass man, wenn man den guten Kritiken glaubt, auch den schlechten Kritiken Glauben schenken sollte. Ich versuche eigentlich, weder die einen noch die anderen allzu ernst zu nehmen. Es liegt nicht in meiner Hand, was über mich geschrieben wird, aber wenn ich dazu beitragen kann, dass anhand meiner Person über die Schönheit der Musik diskutiert wird, soll mir vieles recht sein.
Wir haben mit den Debüts begonnen, ich möchte mit den Abschieden enden. Sie sind nicht nur neue Beziehungen eingegangen in der letzten Zeit, sondern werden sich auch in Paris und Oslo als Chefdirigent von Ihren jeweiligen Orchestern verabschieden müssen. Haben Sie sich darüber schon Gedanken gemacht?
Paris und Oslo verdanke ich überaus wichtige Erfahrungen und eine sehr glückliche Zeit. Aber ich gehe lieber, wenn die Dinge gut laufen, als fünf Jahre zu spät. Die Beziehung wird nicht enden, sie wird sich aber natürlich ändern. Ich werde immer wieder zurückkommen, nur einfach weniger als jetzt.
Freitag, 13. Dezember 2024
Wiener Philharmoniker
Klaus Mäkelä | Dirigent
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 6 a-Moll, „Tragische“