Die Vielfalt des Neuen: 50 Jahre Ensemble Kontrapunkte im Musikverein
Von Karlheinz Roschitz
03.10.2024
Die Fünfziger und Sechziger! Spannende, aufregende Jahre des (Wieder-)Entdeckens verschütteten Kulturguts, das in den Jahren des Nationalsozialismus als entartet oder jüdisch verurteilt, verfemt und verboten und zum Teil sogar der Vernichtung ausgeliefert war. Es waren Jahre des Suchens nach neuen Ansätzen, des Neudenkens und des Aufbruchs: Der damals 32-jährige Komponist und Dirigent Friedrich Cerha und sein 23-jähriger Kollege Kurt Schwertsik ergriffen 1958 die Initiative und gründeten die Gruppierung „die reihe“, um „die Wüste und Einöde, die die NS-Zeit in der Neuen Musikszene hinterlassen“ hatte, neu zu beleben, aufzuforsten. Als Schwerpunkt wählten sie natürlich die Musik der „Zweiten Wiener Schule“, bezogen bald aber auch alle für ein neues künstlerisches Denken nach 1945 wichtigen Arbeiten ein.
1958 war die Stunde null – eine Gründerzeit war angebrochen: Sieben Jahre nach der „reihe“-Gründung, genau am 25. November 1965, trat ein junger Dirigent mit seinem eben erst gegründeten Ensemble Kontrapunkte in der Wiener Secession vor das Publikum: Peter Keuschnig. Es folgten 1968 der in Hamburg geborene Peter Burwik mit seinem Wiener Universitätsorchester und 1971 mit seinem „ensemble XXI. jahrhundert“, 1975 das „oenm – oesterreichisches ensemble fuer neue musik“ in Salzburg, 1985 der Schweizer Beat Furrer mit seiner Société de l’Art Acoustique, die 1989 den bald prominenten Namen Klangforum Wien annahm.
Peter Keuschnig studierte an der Universität Wien Musikwissenschaft und Germanistik und absolvierte Dirigierklassen bei Bruno Maderna, Ferenc Fricsay und Herbert von Karajan. Das Erfolgsmodell „die reihe“ wollte er aber nicht kopieren. Er konzentrierte sich in der Arbeit mit seinen Kontrapunkten, einer in der Besetzung sehr flexiblen, vielseitigen Formation aus besten Mitgliedern von Wiener Orchestern, neben Schönberg, Berg und Webern auf ein sehr breites, für alle musikalischen Tendenzen offenes Repertoire – von der Kammermusik der Wiener Klassik über die klassische Moderne bis zur zeitgenössischen Musik. Die Programme erregten Aufsehen: Man hörte Martinů, Strawinsky, Bartók, Luciano Berio, die Groupe des Six – vor allem Honegger, Milhaud, Poulenc –, die vorher geächteten Altösterreicher Egon Wellesz, Ernst Krenek, Hans Erich Apostel usw., aber auch die damals junge Generation Österreichs mit Komponisten wie Martin Bjelik und Gerhard Schedl oder später unter anderem der Südtirolerin Manuela Kerer.
Sein Ziel definierte Peter Keuschnig so: Er wolle „dem Publikum die Vielfältigkeit moderner und zeitgenössischer Musik nahebringen, das zeitgenössische Repertoire in großer Offenheit und unvoreingenommen stetig erweitern“. Ausschließlich Avantgarde zu spielen lehnte er ab, weil „die Gefahr besteht, romantische Phrasierungsfähigkeit und vor allem den Wiener Klang zu verlieren“, der bei den Kontrapunkten keinesfalls vernachlässigt werden sollte. Rasch gewann die Formation internationales Ansehen: Nach dem Start des Ensembles in Konzerten der Musikalischen Jugend Österreichs und Programmen im Wiener Konzerthaus wurden die Kontrapunkte 1974, also vor 50 Jahren, an den Wiener Musikverein gebunden, wo sie seither einen eigenen, ständigen Abonnementzyklus spielen.
„Dem Publikum die Vielfältigkeit moderner und zeitgenössischer Musik nahebringen.“ Ziel des Ensembles Kontrapunkte, formuliert vom Gründer und langjährigen Leiter Peter Keuschnig
Darüber hinaus machte Peter Keuschnig als Dirigent auch international Karriere. Neben dem Ensemble Kontrapunkte gründete er mit Musikern der Mailänder Scala und der Rai das Ensemble Carme und mit Mitgliedern der Berliner Philharmoniker 1988 die Neue Reihe, er wurde Musikchef des Berliner Theaters des Westens, dirigierte bei den Salzburger und den Bregenzer Festspielen, arbeitete an der Wiener Staats- und Volksoper, am Teatro La Fenice in Venedig, an der Deutschen Oper Berlin. Zu Ernst Kreneks 90. Geburtstag brachte er 1990 dessen 1930 komponierten „Kehraus um St. Stephan“ als Uraufführung in einer sensationellen Produktion der Wiener Staatsoper im Ronacher heraus, 2001 dirigierte er im Festspielhaus St. Pölten die Erstaufführung von Philip Glass’ Oper „Satyagraha“. 1983 präsentierte er in New York eine Gesamtschau des zeitgenössischen österreichischen Musikschaffens, 1987 nahm er an der Europalia in Belgien teil.
Mit dem Ensemble Kontrapunkte gab er vom Publikum gefeierte Konzerte beim Internationalen Festival für Neue Musik in Istanbul und erlebte Triumphe auf einer großen Japan-Reise 1996. Sein Debüt bei Wien Modern gab Peter Keuschnig mit dem Ensemble Kontrapunkte 1988 mit einem György-Kurtág-Konzert. Den Louise-Zemlinsky-Preis des Alexander-Zemlinsky-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien erhielt er 2018. In Wien waren er und seine Kontrapunkte damals freilich längst populär, da sie – nicht zuletzt Wünschen des Kulturamts der Stadt Wien entsprechend – sich auch in den Wiener Bezirken und in Rundfunk- und TV-Auftritten präsentierten, um „Wiens Stadtteilkultur zu stärken“.
Im Jahr nach seinem 80. Geburtstag übergab Peter Keuschnig 2021, mitten in der Pandemie, die Leitung des Ensembles Kontrapunkte an Gottfried Rabl, der sich vor allem als Dirigent des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien und des Ensembles „die reihe“ einen Namen gemacht hatte. Nach Studien an der Jean-Sibelius-Akademie leitete Rabl sein eigenes Ensemble „Theater der Stille“, gab Klavierabende. Besonders prägte ihn seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein in den USA, in Italien und Wien, wo er Assistent bei der Aufführung von Bernsteins letzter Oper „A Quiet Place“ war.
Gottfried Rabl war im Wiener Konzertbetrieb stets als „Entdecker“ bekannt und hochgeschätzt. Zu Unrecht vergessene Werke und wenig bekannte Komponisten aufzuführen, damit eine Neubewertung ihres Schaffens einzuleiten und letztlich so dem gängigen Repertoire der Musik des 20. Jahrhunderts neue Aspekte hinzuzufügen faszinierte ihn – wie etwa sein Engagement für die Aufnahme aller neun Symphonien von Egon Wellesz oder für Zwölftonwerke Josef Matthias Hauers beweisen.
Mit seinen Konzertprogrammen im Musikverein war und ist das Ensemble Kontrapunkte seit nunmehr fünfzig Jahren stets am Puls der Zeit und leistet auch wertvolle Beiträge zu saisonalen Programmschwerpunkten wie den „Musikverein Perspektiven“ oder „Komponist:innen im Fokus“. So auch im Jubiläumskonzert „50 Jahre Ensemble Kontrapunkte im Musikverein“. Gottfried Rabl spannt einen Bogen von den siebziger Jahren zum Heute, einen spannenden stilistischen und kompositionstechnischen Entwicklungsbogen: 1971 entwarf der britische Komponist und Kontrabassist Gavin Bryars, dessen Arbeit durch John Cage, Morton Feldman, Earle Brown und den Minimalismus stark beeinflusst wurde, eine „Endlosschleife“ aus der Hymne „Jesus’ Blood Never Failed Me Yet“, die – im Konzept wie akustisch – auf einigen Gesangszeilen eines Obdachlosen aufbaut. Von Bryars ausgehend, erstreckt sich die Brücke zur Gegenwart, d. h. zu Sânziana-Cristina Dobrovicescu, die für das Jubiläum eine Uraufführung vorbereitet. Zwischenstationen sind dabei Maurizio Kagels 24-minütiges „Finale mit Kammermusik“ (1981) und Claude Viviers für das Pariser Centre Pompidou komponierte „chanson d’amour“ „Bouchara“ – der Text ist in einer erfundenen Sprache geschrieben und geplant als Interludium für die Oper „Träume Marco Polos“ (1981/83). „Troglodyte Angels Clank By“ von Clara Iannotta, aktuell „Komponistin im Fokus“ des Musikvereins, entstand als Auftragswerk von Radio France für das Festival Presence 2016 nach Dorothy Molloys Kurzgedicht „Sipping vodka“ und ist ein kunstvoller Klangmix aus Klappern, Klicken und Kratzen von Holzratschen, Metallstücken, Pfeifen, Zwitschern, summenden Zimbeln. „Es ist“, so die Komponistin, „eine Atmosphäre wie in verschlossenen Räumen, deren Luft voll Staub ist.“
Völlig staubfrei freilich sind stets die Interpretationen des vielfältigen neuen und neuesten Repertoires, das das Ensemble Kontrapunkte präsentiert – seit 50 Jahren im Musikverein.
Sonntag, 3. November 2024
Ensemble Kontrapunkte
Gottfried Rabl | Dirigent und Moderation
Ekaterina Krasko | Sopran
Jubiläumskonzert
50 Jahre Ensemble Kontrapunkte im Musikverein