Die Ruhe – und um sie herum der Sturm: Víkingur Ólafsson
Von Daniel Ender
05.10.2024
Herr Ólafsson, es gibt etwas, das Sie und Johannes Brahms gemeinsam haben: Für Sie beide ist Johann Sebastian Bach einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Komponist. Können Sie das so bestätigen?
(Lacht) Ja – die erste Antwort fällt mir wirklich leicht! Aber ich glaube, dieselbe Antwort hätten auch Beethoven oder Mozart gegeben. Die meisten Menschen mit gutem musikalischem Geschmack würden dasselbe sagen – mit wenigen Ausnahmen.
Mit einigen Ausnahmen, ja: Für Mozart war hier in Wien auch Georg Friedrich Händel ein wichtiger Einfluss, und noch Brahms griff in seinen Variationen op. 24 auf ihn zurück. Und Beethoven stellte Händel mitunter ausdrücklich an die erste Stelle – bei aller Bedeutung, die Bach auch für ihn hatte. Aber zurück zu Ihnen: Was ist für Sie persönlich der Grund für Ihre klare Vorliebe?
Nun, Bach war für mich entscheidend in den wichtigsten Momenten meiner Entwicklung, besonders in der Übergangszeit zwischen meinem Dasein als Konservatoriumsstudent, während dem ich zwischen dem Alter von vier und 24 Jahren mehr oder weniger jede Woche Klavierunterricht erhielt, und meiner künstlerischen Selbstständigkeit, als ich meinen eigenen Weg und meine eigene Stimme in der Musik finden wollte. Ich hatte seither keinen Lehrer mehr, aber habe in gewisser Weise meine Lehrer mit Johann Sebastian Bach ersetzt: Ich verwendete seine Musik, um musikalische Struktur und musikalische Poesie besser zu verstehen. Nichts hilft mir dafür besser – weil seine Musik in alle Richtungen so offen ist. Sie gibt dem Interpreten – mehr als jede andere Musik, die ich kenne – Freiheit im konkreten Klangergebnis.
„Brahms’ Erstes Klavierkonzert besitzt sowohl großartige Erhabenheit als auch unglaubliche Intimität.“
Víkingur Ólafsson
Was, glauben Sie, hat Brahms so an Bach fasziniert? Er hat ja von Clara Schumann mit 22 Jahren den ersten Band des „Wohltemperierten Klaviers“ geschenkt bekommen und bezeichnete sich dann als „Bachianer“.
In gewisser Weise war Brahms deswegen so modern, weil er sich auf seine Weise viel mit der Vergangenheit beschäftigte. Heute haben wir so viel Geschichte hinter uns und denken intensiv über die Vergangenheit nach. Natürlich hat Bach auch in die Musikgeschichte zurückgeblickt und sich damit beschäftigt, aber bei Brahms war das anders: Ich glaube, er war der Erste, der die ganze Last der deutschen musikalischen Tradition spürte. Es war für ihn nicht nur eine Freude, aus derselben Tradition wie Buxtehude und Bach zu kommen, sondern Brahms empfand diese Nachfolge – besonders auch nach Beethoven – auch als bedrückend. Er dachte ständig darüber nach, wo sein Platz in der Musikgeschichte einmal sein könnte. Deswegen vollendete er seine Erste Symphonie erst, als er schon im mittleren Alter war.
Warum hat er aber in besonderer Weise an Bach angeknüpft?
Brahms war das musikalische Handwerk sehr wichtig, und von Bachs Kontrapunkt fühlte er sich besonders stark angesprochen. Man könnte sagen: Er fand eine Musik der Zukunft durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit, im Schreiben von Fugen und Kanons oder Themen mit Variationen. Er verstand es, aus kleinen Elementen große Zusammenhänge zu entwickeln – so wie in der Renaissance und im Barock, wo aus begrenzten Motiven riesige Strukturen entstanden. Brahms liebte diese Vorgehensweise, und ich glaube, er ging auch etwas mathematischer vor als viele seiner Zeitgenossen: Er mochte Spiegel-Strukturen und alle Arten von rhythmischen Zahlenverhältnissen, vor allem die Augmentation und Diminution. Aber letzten Endes ist Bach eigentlich der größte musikalische Rhetoriker, der so vieles in seiner Musik ausdrücken kann. Ich bin mir sicher, dass auch Brahms davon fasziniert gewesen sein muss. Das könnten einige der Gründe sein, warum er Bach liebte …
Im Musikverein spielen Sie Brahms’ Erstes Klavierkonzert. Man weiß etliches über die Entstehungsgeschichte, aber worum geht es in dieser Komposition für Sie persönlich?
Sicher nicht nur um eine Sache! Für mich klingt an verschiedenen Tagen, in unterschiedlichen Städten und Konzertsälen ohnehin immer wieder etwas anderes an. Für Brahms ging es zunächst darum, sich gegenüber der Welt zu beweisen – und damit völlig zu scheitern. Es ist interessant, dass Brahms’ Beziehung zu diesem Stück sein ganzes Leben lang intensiv war, weil er es selbst schätzte. Es ist das Werk eines jungen Mannes – er war ja erst Anfang 20! – in d-Moll, wie Beethovens Neunte Symphonie, das zunächst Brahms’ Erste Symphonie werden sollte und dann als Sonate für zwei Klaviere seinen Weg fand. Durch diese Komposition lernte er so viel über sich selbst – und übrigens bei der Umarbeitung zum Konzert auch über die Orchestrierung. Eigentlich lernte er in diesem Werk zu instrumentieren! Das ist bemerkenswert, weil das Stück wirklich hervorragend und wunderschön instrumentiert ist und sowohl großartige Erhabenheit als auch unglaubliche Intimität besitzt. Und es hat schon den echt Brahms’schen Sound, wie er etwa Pauken und Holzbläser mischt, wie es manchmal hohl und luftig klingt. Harmonisch beginnt es schon unglaublich instabil – und ich denke, diese Instabilität ist eine Art Schlüssel zum Stück. Es gibt Ruhe darin, aber um sie herum ist immer ein Sturm!
Pianistisch unterscheidet sich Brahms stark von Bach, weil darin ganz andere Techniken zum Zug kommen. Wie ist der Unterschied für Sie auf emotionaler Ebene?
Natürlich riesig! Aber jedes einzelne Stück fühlt sich für mich anders an – wenn man etwa das Zweite Klavierkonzert mit dem Ersten vergleicht: Das ist, als hätte er für jedes Stück eine eigene Sprache geschaffen. Aber Brahms denkt immer sehr in Akkorden, während Bach stark von der Linie ausgeht. Auf dieser Ebene ist es schon ein ganz anderes Gefühl, ihre Musik zu spielen. Brahms arbeitet sehr stark mit Klangfarben, und man ist als Interpret dazu aufgefordert, diesen Qualitäten nachzuspüren. Manchmal fühlt sich das aber wieder fast so an, als würde man Choräle spielen!
Durch Ihre Herkunft aus Reykjavík und Ihre Studien in New York lernten Sie die mitteleuropäische Musik aus einer gewissen geographischen Distanz kennen. Historisch war die deutsch-österreichische musikalische Tradition, die ja in Ihrem Repertoire viel Raum einnimmt, immer besonders stolz auf die eigenen Errungenschaften. Wie sehen Sie dies aus Ihrer Position?
Natürlich haben Deutschland und Österreich eine unglaubliche Menge an großartigen Komponisten. Man kann aber auch sagen, dass die europäische Tradition, die es erst seit ein paar Hundert Jahren gibt, nur einen kleinen Teil der Musikkultur der Welt ausmacht: Das ist nur ein Augenblick in der globalen Geschichte. Es ist immer noch eine sehr junge Tradition. Es gibt natürlich einen Grund, warum ich ausgerechnet dieses Repertoire spiele: Es spricht mich am unmittelbarsten an. Ich spiele natürlich auch Rameau, Debussy, Rachmaninow, Bartók oder Ligeti. Aber diesen Sommer studiere ich gerade Beethovens späte Sonaten. Da komme ich aus dem Staunen gar nicht heraus, und manchmal denke ich mir: Wie schade, dass ich nicht aus seinem Land komme!
Samstag, 9. November 2024
London Philharmonic Orchestra
Edward Gardner | Dirigent
Víkingur Ólafsson | Klavier