Die Kunst der Wahrheit: Asmik Grigorian
Von Oliver Láng
30.09.2024
Wenn sie die Bühne betritt, erlebt man großes Theater: Egal, ob im Konzert oder in der Oper, Charisma, Intensität, Ehrlichkeit und eine Unmittelbarkeit der Gefühle fallen bei Asmik Grigorian exemplarisch zusammen. Nun gibt die weltweit umjubelte Sopranistin ihr Debüt im Musikverein.
Manchmal passt alles zusammen. Da ist ein Baby, das erste Vorstellungen noch im Bauch der Mutter erlebt. Da ist ein hochbegabtes Kind, das in eine Theater- und Musikerfamilie hineinwächst. Da ist eine Sängerin, die so ernsthaft und wahrhaft ans Werk geht, dass Rezensentinnen und Musikautoren in Kommentaren ihre beste Poesie platzieren können. Und da ist schließlich eine Kunstwelt, die auf jemanden wie sie nur zu warten schien. Die Rede ist von Asmik Grigorian, der litauischen Sopranistin, die die Musikwelt seit Jahren aufrollt. Das Wort „ikonisch“, in den letzten Jahren auch hierzulande recht in Mode gekommen, findet jedenfalls seine korrekte Anwendung. Denn Grigorian, in Ton und Bild, in Atem und Klang, macht aus sehr guten Abenden bleibende, aus bekannten Rollen unvergessliche, aus Musik ein Erlebnis. Der diesbezüglich praktische Selbsttest für daheim: Asmik Grigorian in die Youtube-Suche eingeben und lossurfen. Wer bleibt da nicht hängen, klickt laufend auf weiter und weiter? Na eben. Der Grigorian-Effekt.
Noch besser lässt sich das aber freilich an einem Live-Erlebnis festmachen. Ein Lied, eine Arie, eine Phrase, eine Rolle, ein Satz: Grigorian unterfüttert das alles mit einer emotionalen Unmittelbarkeit, die so verletzlich wirkt, wie sie einen fasziniert. Wer ist das jetzt, die man erlebt? Die Figur, die dargestellt wird? Oder die Sängerin? Beide? Ist sie das Lied? Oder singt sie es nur? Die hohe Gefühlsklippe, der Ausbruch, das Unbedingte, Zarte oder Zwingende: Das ist in aller Intensität zu erleben, die Emphase: alles da. Egal, ob bei Puccini oder Rachmaninow, bei Tschaikowskij oder Janáček. Doch niemals ist es ein Klang nur um des Klanges willen, Schönheit, weil’s halt schön ist. Immer steht dahinter ein ganzes Universum an psychologischen Befindlichkeiten. Wenn in Rachmaninows „Dissonanz“, dem Lied, das ihrer ersten Solo-CD den Titel gegeben hat, der Ausdruck schier explodiert: dann wird es höchstpersönlich, dann spricht ganz ein Mensch aus der Musik.
Wenn etwa Grigorian als Manon Lescaut, am Ende der Puccini-Oper bei der Arie „Sola, perduta, abbandonata“, nachdenklich, prüfend, mit einer Prise Verachtung ihren Schmuck noch einmal betrachtet, dann ist das mehr als nur Schauspiel, als Theater. Es „kann“ mehr als Hollywood. Es ist das vollkommene Durchleuchten einer Bühnenfigur.
Die Bühnenfigur, die ist natürlich auch in Liedern zu finden. Denn auch Liedgesang ist Geschichtenerzählen für sie, immer geht es darum: zu erzählen. Ob es nun ein Dreistünder ist oder ein Dreiminüter. Ganz egal. Schließlich seien etwa Rachmaninows Lieder auch nichts anderes als kleine Opern, erzählt sie.
Doch Grigorian schafft sogar noch mehr. Ihr gelingt es, das ewige Paradoxon, dass sich die Figuren in Oper und Konzert singend in der Handlung fortbewegen, aufzulösen. Denn wie anders könnten diese Emotionen transportiert werden, wenn nicht durch Gesang? Wie anders die Figur erzählt werden, als so? Grigorian hebt alle Fragen nach dem Wie und dem Warum auf, wie sie auch interpretatorische Spitzfindigkeiten außer Kraft setzt. So, wie sie es singt, so ist es eben, und so ist es richtig. Nicht weil sie es behauptet, sondern weil es ihr aus innerster Wahrhaftigkeit gar nicht anders möglich wäre. Alles andere wäre Verstellung.
Um das aber richtig zu verstehen, muss man sich in das Grigorian’sche Koordinatensystem von Kunst und Leben begeben. Und das lautet: Auf der Bühne sind Kunst und Leben nicht zu trennen. Es gibt in Grigorians Leben nicht eine Künstlerin und eine Privatperson, sondern beide entwickelten sich gemeinsam, und beide stehen zusammen auf der Bühne. Nur was Grigorian empfindet, will sie weitergeben, und nur was aus ihr kommt, zeigen. Die Identifikation mit Rollen liegt dabei bei einhundert Prozent: „Ich bin alle meine Rollen.“ Und spielen? „Ich denke nie ans Spielen einer Rolle, weil ich das nicht mag. Es würde bedeuten: Ich lege fest, was das Publikum denken soll. Was ich aber wirklich will, ist, dass jede einzelne Person mit mir mitfühlt und dann diese Gefühle in ihre eigene Geschichte mitnimmt. Und dann ihre eigene Geschichte erzählt.“
Ich bin alle meine Rollen.
Asmik Grigorian
Und weil es eben nicht um das Abspulen eingelernter Stereotypen geht, ist jede Kunst auch ergebnisoffen. Einen letzten Gedanken, den sie vor einem Auftritt hat, gibt es ebenso wenig wie ein immer sich wiederholendes Gefühl nach einem Auftritt. „Hätte ich immer denselben Gedanken, dann wäre ja jeder Auftritt gleich. Aber jeder Abend hat eine andere Bedeutung, birgt andere Gefühle.“
Nun klingt das alles berauschend und echt, auch so wunderbar schlüssig. Doch darf darüber nicht vergessen werden, wie viel das Auftreten, vor allem in diesen Intensitätsgraden, einfordert. Ein fast indiskreter Blick in eine Arbeitssituation: Da kann es schon passieren, dass die Sängerin nach einer Probe noch im Raum bleibt, am Boden kauernd weiter in der Rolle verharrt, verarbeitet, forscht, in sich und die Partitur horcht. Fast peinigend wirkt es, wie sie in den Tiefen der Partie und ihrer Seele wühlt. Auch ist da die Sache mit der Einsamkeit. Wie John Steinbeck einmal feststellte, dass Künstlerinnen und Künstler im Moment des Schaffens ganz auf sich alleine gestellt seien, so empfindet es auch Grigorian: „Natürlich ist man allein. Denn trotz aller Unterstützung und Zusammenarbeit im kreativen Team: Letztlich ist man es selbst, der oder die auf die Bühne geht und sich der Sache stellt. Die Ängste, Probleme, Fragen, die es immer gibt: Mit ihnen muss man sich alleine auseinandersetzen und klarkommen. Und dass ihr Weg nicht nur mit Rosen geschmückt, sondern auch mit harter Kritik und Zweifeln gepflastert war: Das führte sie in ihrem Programm „A Diva is born“ an der Wiener Staatsoper eindrucksvoll vor. Auch dieser Abend war übrigens ein Stückchen weg vom Konventionellen: Popsongs neben Klassik, ein Pingpong mit dem Pianisten, noch nie zuvor gab es das im Haus am Ring. Und doch: Das angeblich so konservative Wiener Publikum war schlichtweg hingerissen.
Zu Grigorians Weltverständnis gehört auch, dass sie keine handelsüblichen Interviews gibt. Dem eingespielten Frage-und-Antwort-Spiel, das auf behutsam abgewogenen Antworten basiert, weicht sie weiträumig aus. Mitunter antwortet sie nur knapp, dann wieder sehr persönlich. Was für einen Sinn hätte es sonst zu reden? Wenn es nicht der Wahrheitsfindung diente? Oder auch die Sache mit Social Media. Wer, wenn nicht Asmik Grigorian könnte die vermeintliche Privatperson hinter der Künstlerin zeigen oder einfach nur ein paar berückende Einblicke ins „echte“ Leben bieten? Sie, die doch so unkonventionell rüberkommt – sie könnte es. Einzig: Sie will es nicht. Auch wenn sie die sozialen Medien in manchen Dingen als nützlich und sinnvoll empfindet, für sich selbst als Marketing- und Kommunikationsinstrument will sie sie nicht. Genauer: nicht den Gedanken, dass man sich laufend, privat und detailreich präsentieren müsse, um heute überhaupt erfolgreich sein zu können.
Zuletzt, als Lackmustest zu all der Ehrlichkeit die Gretchenfrage: Nehmen wir an, Grigorian würde ihr Ding machen, aber keinen Erfolg ernten. Ginge sie ihren Weg dennoch so unbeirrt weiter? Die Antwort ist kurz und kommt sofort: „Ja, natürlich.“
Mittwoch, 6. November 2024
Asmik Grigorian | Sopran
Lukas Geniušas | Klavier
Lieder von
Sergej Rachmaninow