Beschwörungen und Berührungspunkte: Adrian Eröd singt Lieder von Egon Wellesz

© Nikolaus Karlinsky
Aus Anlass des 50. Todestages von Egon Wellesz präsentiert Adrian Eröd im Gläsernen Saal bei freiem Eintritt eine neue CD, die diesen wichtigen Komponisten aus Wien als Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart begreifen lässt.

Von Christian Heindl

04.10.2024

Für manche britische Jungkomponisten war es wohl eine sonderbare Situation, wenn sie in Oxford erstmals zu einer Vorlesung des berühmten Professor Wellesz gingen und sich dort unversehens von einer Schar von Priesteranwärtern und Nonnen umgeben sahen. Was an finsteren, verregneten oder winterlichen Spätnachmittagen fast gespenstisch wirken mochte, fand seine rasche Aufklärung darin, dass partout dem Wiener Komponisten und Musikwissenschaftler 1916 die Entzifferung der byzantinischen Notation und damit ein wichtiger Schritt zum Verständnis der Geschichte der abendländischen Kirchenmusik gelungen war, was zum Interesse der geistlichen Studentenschaft führte.

Die kleine Anekdote am Beginn dieser Betrachtung mag unmittelbar einführen in die internationale Bedeutung und in das persönliche Schicksal eines Menschen, der einst in Österreich hoch geachtet war, als er wie so viele vor dem Terrorregime der Nationalsozialisten die Flucht ergreifen musste und hierzulande plötzlich voll Niedertracht behandelt wurde. Viele hatten nicht das Glück, davonzukommen. Viele waren mit großen Beschwernissen beim Beginn eines neuen Lebens in der Fremde konfrontiert. Egon Wellesz war einer der gar nicht so vielen, die dank ihrer Vorgeschichte relativ bald wieder in einer ihrem Rang entsprechenden Funktion tätig werden konnten.

„Das Programm beginnt theologisch-abstrakt und wird immer menschlicher und emotionaler.“

Mit seiner brandneuen CD „berührungs.punkte“ hat Adrian Eröd ein Liedprogramm mit und um Egon Wellesz verwirklicht. Diese erfährt ihre Präsentation im Musikverein exakt am 50. Todestag des Komponisten, der in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1974 in Oxford verstarb. Mit dabei sein wird mit Christoph Traxler am Klavier einer der bewährten Partner des österreichischen Baritons.

Ein wesentlicher Motor und Unterstützer des Projektes ist der Egon-Wellesz-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, der 1998 von Wellesz’ Schwiegersohn Charles Kessler eingerichtet wurde und seither unter dem Vorsitz von Hartmut Krones steht. Im Rückblick kann dieser eine erfreuliche Bilanz ziehen: „Der Egon-Wellesz-Fonds hat seit seiner Gründung, auch durch die Hilfe des langjährigen Intendanten der Gesellschaft der Musikfreunde, Thomas Angyan, etlichen Werken des Komponisten zur posthumen Uraufführung verhelfen können. Unter anderem gelangte im April 2000 die Dritte Symphonie unter dem Dirigat von Marcello Viotti zu ihrer ersten Realisation, der – angesichts der nunmehr erkannten Bedeutung des Werkes – seitdem weltweit etliche weitere folgten. Zudem haben von uns gewährte Zuschüsse Verlage bei der Herausgabe von bislang ungedruckten Werken finanziell unterstützt, ebenso wurden CD-Einspielungen durch Kostenbeteiligungen ermöglicht. Und wir versuchen, Künstlerinnen und Künstler sowie Ensembles für das Œuvre des Komponisten zu interessieren – wie zum Beispiel Adrian Eröd.“

Ein Vierteljahrhundert nach der Gründung des Fonds stellen sich für Krones diese Aktivitäten, die auch in Wellesz’ erzwungene englische Wahlheimat reichen, als Erfolg dar: „Die auch internationale Bekanntheit des Komponisten ist seither deutlich gestiegen, wie unter anderem die Abrechnungen der Tantiemen dokumentieren, die uns weitere finanzielle Unterstützungen ermöglichen.“

© Egon-Wellesz-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Dass die seinerzeitige Einrichtung des Fonds ebenso wie die nunmehrige Präsentation der neuen CD und viele weitere Wellesz-Ereignisse zur Gesellschaft der Musikfreunde führen, steht in Zusammenhang mit der kontinuierlichen engen Verbindung, die Wellesz seit den 1920er Jahren zu diesem Haus aufweist. Eines der besonders markanten Ereignisse war die Uraufführung der Orchestersuite „Prosperos Beschwörungen“, op. 53, die Bruno Walter und die Wiener Philharmoniker am 19. Februar 1938 im Großen Saal gestalteten. Sie trug schicksalhaft zur geglückten Emigration von Wellesz bei. Walter war so überzeugt von diesem Werk, dass er es kurzerhand wenige Wochen später auf eine Tournee in die Niederlande mitnahm, wozu er auch den Komponisten ausdrücklich einlud, wodurch dieser in den Tagen des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich nicht in Wien war. Wellesz folgte dem Rat, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Er, der als erster österreichischer Komponist seit Joseph Haydn schon 1932 das Ehrendoktorat der Universität Oxford erhalten hatte, reiste nach England weiter, wo er dank Unterstützung dortiger Freunde rasche Integration fand. 1939 wurde er Fellow am Oxforder Lincoln College, und nach kurzzeitiger – auch die Flüchtlinge aus dem Gebiet des Deutschen Reichs betreffende – Internierung als „enemy alien“ nach Ausbruch des Weltkriegs konnte er schließlich nach und nach seine kontinuierliche Lehrtätigkeit aufnehmen. Nach Österreich kam er sehr oft, jedoch nur mehr zu Urlauben und speziellen Anlässen. Die dauerhafte „Rückkehr“ erfolgte wie bei manchen anderen erst nach dem Tod: Heute ruht Wellesz mit seiner Frau Emmy, seiner jüngeren Tochter Elisabeth und Charles Kessler in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof.

Für Adrian Eröd waren „Prosperos Beschwörungen“ jenes Werk, über das er zu Wellesz fand: „Ich erinnere mich, dass mir der Name Wellesz dabei das erste Mal untergekommen ist und mich das Werk als Teenager sehr beeindruckt hat. Später fand ich die Noten der ‚Lieder aus Wien‘ in der Bibliothek meines Vaters und habe diese schon während des Studiums zu lernen angefangen.“

Die Grundidee für die neue CD entstand anlässlich eines Konzerts in der Österreichischen Nationalbibliothek mit Werken von Wellesz, Eric Zeisl und Joseph Marx: „Daraufhin begann ich ein CD-Programm um die drei Wellesz-Zyklen ‚On Time‘, ‚Lieder aus der Fremde‘ und ‚Lieder aus Wien‘ zusammenzustellen. Ich wollte die Wellesz-Stücke in einen Rahmen einbetten, in dem es nicht nur Rückbezüge zu Mozart und Schubert, sondern auch Verbindungen in die Gegenwart geben sollte, deswegen ist auch Aribert Reimann dabei. Es gibt inhaltlich zahlreiche sowohl direkte als auch atmosphärische Verbindungen, es gibt musikalische Anschlüsse, deswegen auch der Titel ‚berührungs.punkte‘, und das Programm beginnt theologisch-abstrakt und wird immer menschlicher und emotionaler.“

Für Hartmut Krones hat das Liedschaffen von Wellesz im Gesamtrahmen der österreichischen Liedkultur im 20. Jahrhundert einen besonderen Stellenwert: „Das umfangreiche Liedschaffen von Egon Wellesz – 55 Klavierlieder, sieben mit Ensemble, 16 mit Orchester – ist eines der wichtigsten Beispiele für die Entwicklung der Wiener Moderne von der Spätromantik über den Hochexpressionismus zur tonalitätsfreien Sprache, wobei nur in Ausnahmefällen mit dodekaphonischen Einsprengseln (mit meist auf den Text bezogenen inhaltlichen Hinweisen) gearbeitet wurde – zum Beispiel gerade in den ‚Liedern aus Wien‘ nach Texten von H. C. Artmann.“
Und Adrian Eröd ergänzt: „Wellesz ist insofern ein interessanter Liedkomponist, als in seinem Vokalwerk – ähnlich wie bei Krenek – die ganze stilistische Spannweite seiner Entwicklung abgebildet ist. Die Lieder sind auch stimmlich attraktiver als vieles aus der Zeit.“

Egon Wellesz – einer der nach und nach in seiner Bedeutung allgemein anerkannten Komponisten und Musikwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, der mit seinen Opern, Symphonien, Kammermusik und Liedern markante Zeichen setzte. Und auch wenn es immer wieder der „Prospero“ ist, an den man bei ihm zuerst denken mag, so mag gerade dieses Werk geeignet sein, Musikfreunde und Musikfreundinnen in aller Welt nach „mehr Wellesz“ fragen zu lassen. – Hartmut Krones zu der Fügung, die 1938 Wellesz’ Flucht ermöglichte: „Bruno Walter ließ ja für die Konzerte am 13. und 16. März in Amsterdam und Rotterdam den ‚Prospero‘ gegen das ursprünglich projektierte ‚Tod und Verklärung‘ des zeitweisen Präsidenten der NS-Reichsmusikkammer Richard Strauss umprogrammieren – Wellesz statt Richard Strauss! Vielleicht sollte das heute auch einigen ein Motto sein.“

Samstag, 9. November 2024

Adrian Eröd | Bariton
Christoph Traxler | Klavier
Ursula Magnes | Moderation
Hartmut Krones

Lieder von Egon Wellesz, Wolfgang Amadeus Mozart und Aribert Reimann

Gesprächskonzert mit Adrian Eröd und Hartmut Krones

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