Auf die Mischung kommt es an: Das Artis-Quartett geht in seine Abschiedssaison
Von Markus Siber
06.10.2024
Das Streichquartett gilt seit jeher als hohes und kostbares Gut. Kaum ein Komponist, der sich nicht auf dieses Genre eingelassen hätte (was natürlich auch für Komponistinnen gilt). Ähnlich hoch setzte wohl der technikaffine Abenteuerschriftsteller Jules Verne den Wert der Gattung an, der dem Streichquartett sogar literarisches Potenzial zugestand. In seinem 1895 erschienen Roman „Die Propeller-Insel“ schickt er vier wackere Franzosen auf Amerika-Tournee, um sie dann im Auftrag einer Milliardärsgesellschaft unversehens entführen zu lassen. Sie finden sich schließlich auf einer schwimmenden Insel im Südpazifik wieder, wo sie vor aufgeschlossenen Ohren die schönsten Quartette des klassisch-romantischen Repertoires zum Besten geben. „Mit welch seltener Vollendung, welch herrlichem Zusammenspiel und tiefem Verständnis brachten sie stets die Werke eines Mozart, Beethoven, Mendelssohn und Haydn zu Gehör!“, ist da zum Beispiel zu lesen. „Da gab es keinen Lärm, nichts Geschäftsmäßiges, wohl aber eine unvergleichliche Virtuosität!“ Das überaus komische Buch verdankt, wie könnte es anders sein, seine besten Momente den vier Charakteren, die trotz unterschiedlicher Temperamente „wahrhaft brüderliche Freundschaft“ hegen. „Ihre Herzen“, heißt es gleich zu Beginn, „bewahrten wie gute Instrumente stets eine ungestörte Harmonie.“
Es steht im pazifischen Sternenhimmel, ob diese Harmonie bis ins fünfte Jahrzehnt des Zusammenspiels angehalten hätte. Beim 1980 gegründeten Artis-Quartett, das seit 1982 in unveränderter Besetzung spielt und sich in der laufenden Saison von seinem Publikum im Musikverein und in aller Welt verabschiedet, ist das persönliche und musikalische Einvernehmen jedenfalls bis heute ungetrübt. Das Interview auf der Bühne des Brahms-Saals, den Peter Schuhmayer (1. Violine), Johannes Meissl (2. Violine), Herbert Kefer (Viola) und Othmar Müller (Violoncello) seit 1988 mit einem eigenen Zyklus bespielen, nimmt denn auch seinen Ausgang an der Frage, worin trotz unterschiedlicher Charaktere das Geheimnis dieses menschlichen und künstlerischen Erfolges liegt. Beim sich entfaltenden Gespräch fühlt man sich an Goethes Wort von den „vier vernünftigen Leuten“ erinnert, die sich im Streichquartett unterhalten. Doch diesmal geht es nicht um eine Metapher für ein Genre, auch nicht um die seit Nikolaus Harnoncourt vielfach beschworene Klangrede, sondern um das Reden selbst.
„Hoffentlich wird es uns noch einmal mögen.“ Das Artis-Quartett spielt zum letzten Mal Zemlinskys Zweites Streichquartett.
Johannes Meissl ergreift als Erster das Wort: „Natürlich sind wir allesamt autonome Individuen, die bei allem, was sie tun, ganz konkrete Vorstellungen haben. Aber genau darum geht es ja! Damit etwas Gemeinsames entsteht, müssen sich alle gleichberechtigt einbringen können. Es würde zu weit führen, seine Individualität zu zelebrieren, aber selbstbewusst beibehalten sollte man sie schon.“ Ein plastisches Bild vom Geben und Nehmen wirft Peter Schuhmayer ein, der von vier Farben spricht, die sich in der Mitte vermengen: „Auf die Mischung kommt es an. Und diese Mischung ist im stetigen Wandel. Sie ist davon bestimmt, wer sich aufgrund seiner musikalischen Rolle gerade mehr oder weniger einbringt.“ Der Begriff „funktionales Hierarchieverständnis“ fällt, im weiteren Gesprächsverlauf wird auch dem guten Kompromiss als Basis eines gelungenen Zusammenwirkens das Wort geredet. Hebert Kefer macht sich in versammelter Runde über die Begrifflichkeiten von Toleranz und Akzeptanz Gedanken: „Toleranz ist natürlich immer nötig, wenn man zusammenleben oder zusammenarbeiten will. Aber letzten Endes geht es darum, dass man auch akzeptieren kann, was man toleriert. Dass man es für gut befindet und bereit ist, es gemeinsam weiterzutragen, obwohl es vielleicht ursprünglich nicht den eigenen Vorstellungen entspricht.“ In die Anfänge des Quartetts führt ein Einwurf von Othmar Müller: „Ich kann mich erinnern, wie wir früher unsere Positionen schon immer sehr stark verteidigt haben. Mittlerweile ist uns längst klar geworden, dass das völlig sinnlos ist und zu keinem wesentlichen Ergebnis führt.“ Im Übrigen, da sind sich alle einig, sei über die Jahre die Erkenntnis gereift, dass Interpretationen keinesfalls in Stein gemeißelt seien und sich organisch entwickeln würden.
Als in vielfacher Hinsicht gute Schule erwies sich ein Studienaufenthalt in den USA beim berühmten LaSalle-Quartett, bei dem sich die vier Streicher aus Wien den Feinschliff für ihre internationale Karriere holten. Das Studium fern der heimatlichen Strukturen und Gewohnheiten ließ die jungen Musiker aber auch in persönlicher Hinsicht wachsen. Erinnerungen an das Zusammenleben auf engem Raum mit geteilter Küche und gemeinsamem Wohnzimmer, in dem mehrmals täglich geprobt wurde, sind auch 40 Jahre später noch sehr präsent.
Unter diesen Bedingungen entstand eine starke Verbindung, die bis heute trägt. Und die vier Musiker aus Wien eigneten sich etwas an, das sie heute als „Identität des Atmens“ bezeichnen, eine Art Grundverständnis über Klanggebung und Phrasierung, die, wenn sie einmal gefunden ist, nicht immer von Neuem geprobt werden muss. Aus dem gemeinsamen Atmen ergebe sich dann die Homogenität, für die das Artis-Quartett weltweit gelobt wird. Das Quartett als einheitlicher Organismus, der jedem Einzelnen auch seine Freiheiten gibt. Um noch besser ins gemeinsame Schwingen und Atmen zu kommen, haben sich die vier Musiker vor fast 20 Jahren entschieden, mit Ausnahme des Cellisten stehend zu spielen.
Nun, nach einer beeindruckenden Karriere, die schon früh zu den Salzburger Festspielen und in die Carnegie Hall in New York geführt hat, also der Abschied. Wie sagt man nach so vielen musikalischen Sternstunden am besten Adieu? Zum Beispiel mit Stücken, die eng mit der Geschichte und den Geschicken des Ensembles verbunden sind. Im ersten Zyklus-Konzert steht so etwa das Zweite Streichquartett von Alexander Zemlinsky auf dem Programm, ein Werk, das sich als identitätsstiftend für das Ensemble erwies, das damit in seinen Anfangsjahren bei einer Leistungsschau österreichischer Quartette seine Visitenkarte abgab. „Hoffentlich wird es uns noch einmal mögen, wenn wir es jetzt spielen“, so Johannes Meissl. Wie eng die Beziehung zu manchen Werken ist, zeigt auch eine Bemerkung von Herbert Kefer: „Das Gefühl ist ja schon eigenartig, wenn man Stücke nie wieder in der gewohnten Besetzung spielen wird. Schon beim letzten Konzert der vergangenen Saison wurde mir diese Endlichkeit bewusst: Schönberg ist weg, Haydns „Reiter-Quartett“ ist weg, auch Mendelssohn op. 44 ist weg.“
Damit nicht zu viel Sentimentalität Einzug hält, holt sich das Artis-Quartett für das letzte Konzert moralische Unterstützung auf die Bühne. Neben Stefan Vladar, einem wichtigen Begleiter seiner Karriere, hat das Ensemble auch Veronika und Clemens Hagen in den Brahms-Saal eingeladen, mit denen es bisher noch nie gemeinsam aufgetreten ist. Somit kommt ein weiterer geschichtsträchtiger Aspekt ins Spiel, denn die Karriere des Hagen-Quartetts im Konzerthaus war über Jahrzehnte parallel zu jener des Artis-Quartetts im Musikverein verlaufen.
Abschiedssaison – heißt das nun aber wirklich, dass das Artis-Quartett dann nie wieder zu hören sein wird? Nach kurzem Überlegen spricht Othmar Müller aus, was alle kopfnickend bekräftigen: „Ich glaube nicht, dass wir uns nach diesen unglaublich intensiven gemeinsamen Jahren einfach so am Wochenende zur Hausmusik treffen. Die Lust auf Kammermusik wird natürlich bleiben, aber es ist wahrscheinlich sinnvoller, wenn wir diese Leidenschaft mit anderen Menschen verwirklichen.“ 45 sei doch eine stattliche Zahl, ergänzt Johannes Meissl, besser ein Ende in Würde als das Risiko einer schlechten Nachrede.
Eine glanzvolle Ära, daran ist offenbar nicht zu rütteln, neigt sich also dem Ende zu. Es bleiben mehr als 40 Platten, die mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet wurden. Und eine ereignisreiche Abschiedssaison!
Donnerstag, 7. November 2024
Artis-Quartett