Vom Wort zum Ton, vom Bild zum Klang
Nun fühlt sie den Zeitpunkt gekommen. Denn: „Inzwischen habe ich einiges erlebt, und es scheint, dass die Musik sich mir erschließt – oder auch umgekehrt. Bis jetzt habe ich auch auf der Opernbühne immer nur jene Partien übernommen, bei denen ich überzeugt davon war, mich einerseits mit dem Charakter psychologisch identifizieren zu können und dass andererseits meine Stimme die Kraft, die Farben und die Ausdrucksstärke zur Verfügung hatte, um die konkrete Rolle zu interpretieren und ihr die nötigen Facetten zu verleihen. Ich muss ganz eintauchen, die Figuren völlig verstehen – nur so kann ich ihr Schicksal dem Publikum vermitteln.“
Auch beim Lied dringt Elīna Garanča vom Inhalt zum Klang vor. „Der Text muss mich als Erstes ansprechen, dann erst höre ich die Musik an. Und entweder sinkt es bei mir ein oder eben nicht. Komischerweise ist fast immer schon nach ein paar Phrasen klar, ob ich ein Lied wähle oder nicht.“ Ob und wie die Töne den Text deuten, ist wesentlich für sie: „Ich muss die Kälte, die Wärme, den Frost oder den dunklen Himmel sehen, hören, spüren.“ Und obwohl sie manchmal als besonders kontrolliert agierende Interpretin wahrgenommen wird, ist ihr die emotionale Grundlage unerlässlich: „Ich wüsste nicht, wie ich es anstellen sollte, nur mechanisch den Anweisungen der Komponisten zu folgen, ohne etwas dabei zu fühlen. Ich glaube sogar, dass wir Künstlerinnen und Künstler dem Publikum offenbaren müssen, was emotional in uns passiert. Wenn du das wirklich schaffst, dann geht das Publikum plötzlich mit dir auf diese Reise – und du hast deine Aufgabe erfüllt.“
Malcolm Martineau ist ihr dabei am Klavier ein hochgeschätzter musikalischer Gefährte. „Beide erzählen wir unsere Lieder in Bildern, wir kommunizieren einfach auf diese Weise. Bei den Proben suchen wir ein Bild – ein Foto, Malerei, Natur – und bemühen uns, dessen Farben, dessen Atmosphäre musikalisch zu treffen. Er ist ein unglaublich einfühlsamer Begleiter und liebt seine Sängerinnen und Sänger, ist für sie da, spürt und hört voraus, was nötig ist – auch wenn vorher vielleicht anderes probiert worden ist. Mit ihm erlebe ich die Freiheit, Musik aus dem Augenblick heraus zu gestalten.“