Das zweiteilige Werk, das vorwiegend auf der Luther-Übersetzung beruht, wird von einem Prolog und einem Epilog umrahmt. Formal und stilistisch erweist es sich als äußerst komplex. Obwohl dem Orchester nach Schmidts eigenen Angaben „keine prävalierende Rolle“ zufällt, wird der dominante Chorpart in seiner Aussage in entscheidender Weise instrumental ergänzt. Überdies wird das Geschehen in einigen Passagen von der Orgel solistisch kommentiert. In der musikalischen Zeichnung der Naturgewalten beim sechsten Siegel etwa, im Brausen des Sturms und in der als beklemmend „höhersteigend“ komponierten Wasserflut-Fuge, vereinigen sich kontrapunktische Meisterschaft und Klangsinn zu packenden akustischen Bildern. Eine Schlüsselszene, die Schmidt dem Orchester anvertraut hat, ist der Kampf Michaels gegen den Drachen am Beginn des zweiten Teils, nach der „weihnachtlich“ anmutenden Szene von der Geburt des Erlösers. Hier entwickelt sich im Orchester ein wilder, zusehends entgleisender Kampf, der sich in einem höchst komplizierten kontrapunktischen Orchestersatz und in gegenläufigen rhythmischen Strukturen ausdrückt. Die extremen Gegensätze der biblischen Erzählung sind souverän gestaltet. Dem dreimaligen Ertönen der Stimme des Herrn sind der Auftritt der apokalyptischen Reiter, die Naturkatastrophen und die sieben Posaunen entgegengesetzt, die die sieben Wehe verkünden. Dieser „Posaunen-Komplex“ ist ein zusammenhängend komponierter Abschnitt, der in c-Moll beginnt und in C-Dur endet.
Der Einsatz traditioneller Stilmittel sowie das Festhalten an der Tonalität haben dazu geführt, dass man Schmidt Eklektizismus und Epigonentum vorwarf. Herbert von Karajan etwa hat eine Aufführung des „Buchs mit sieben Siegeln“ mit dem Argument abgelehnt, es handle sich um „verspätete Romantik“. Doch in unserer Zeit, in der in der Musik längst ohnehin alles „erlaubt“ ist, wirken solche Urteile doch ziemlich oberflächlich und überholt. Und die Meisterschaft, mit der Schmidt hier die gesamte Palette tradierter Ausdrucksformen von Bach bis Wagner nicht nur zu einer großen Synthese führt, sondern sie in sein persönliches Idiom übersetzt, wobei er die Aufbruchstendenzen seiner Gegenwart keineswegs ignoriert, spricht für sich.
Einen leidenschaftlichen Anwalt fand der Komponist in Nikolaus Harnoncourt, der das Werk 2000 mit dem Wiener Singverein und den Wiener Philharmonikern erarbeitet und für CD aufgenommen hat – übrigens auch im Hinblick auf einen außermusikalischen Aspekt, der einen Schatten auf Schmidts Persönlichkeit wirft. Denn der brisante Zeitpunkt der Uraufführung des „Buchs mit sieben Siegeln“, unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland, hat dazu beigetragen, Franz Schmidt bezüglich seiner politischen Einstellung in Misskredit zu bringen. Dies auch deswegen, weil er kurz vor seinem Tod den fragwürdigen Auftrag der Nazis zu einer Kantate mit dem Titel „Deutsche Auferstehung“ annahm. Sie blieb Fragment, trotzdem resultieren daraus Fragen, auf die wir keine Antwort finden können.
Das stärkste Argument für Franz Schmidt bleibt die überwältigende Musik seines großen Oratoriums. Nikolaus Harnoncourts Bruder Philipp, der bedeutende Liturgiewissenschaftler, hat betont, dass die Johannes-Apokalypse als „Trost-Buch für Zeiten schwerster Anfechtung“ zu lesen sei. Genau in diesem Sinn hat der tiefreligiöse Komponist sie auch interpretiert. Dass es möglich scheint, gegen alle Hoffnung noch zu hoffen, mag uns gerade angesichts der aktuellen Weltlage ein heilsames Erlebnis sein.
Monika Mertl
Prof. Monika Mertl, Kulturpublizistin in Wien, ist Autorin der Biographien von Nikolaus Harnoncourt (Vom Denken des Herzens) und Michael Heltau (Auf Stichwort).