Sie arbeiten als Komponist manchmal bewusst mit notierten Anweisungen, die ähnliche Unwägbarkeiten beinhalten und nur eine Annäherung der Umsetzung an das Notenbild erlauben.
Vor kurzem habe ich meine Oper „Sycorax“ beendet. Darin müssen zwanzig Streichinstrumente während der Aufführung immer wieder ihre Saiten umstimmen. Es gibt eine Stelle, wo alle Saiten schräg gegeneinander verstimmt sind, in Sechstel- und Vierteltönen, bis zu einer großen Sekund tiefer. Auf diesen Saiten lasse ich komplizierte Melodien unisono spielen. Es ist unmöglich, das genau zu intonieren. Ich erwarte mir Tonhöhen-Wolken, die sich melodisch bewegen.
In meiner „Parkmusik für Grafenegg“ (Uraufführung: 4. September, Anm.) werden vier Blaskapellen musizieren. Einer der Teile des Stückes trägt den Untertitel „Zeitlupe, unscharf“: ein extrem langsamer Marsch, wo jeder Schritt auf Anweisung des Dirigenten in Zeitlupe gesetzt wird. Die Musiker*innen heben zwar den Fuß gemeinsam, aber jede*r wird ihn zu einem klein wenig anderen Zeitpunkt auf den Boden aufsetzen. Das ist dann der Taktschwerpunkt. Die 140 Blasinstrumente werden daher nicht in einem präzisen Takt spielen, sondern sich in einem organisierten Chaos, einem weichen, fließenden Zeit-Raum befinden.
Was steht bei Ihnen am Beginn der Entstehung einer neuen Komposition?
Am Anfang befinde ich mich in so etwas wie in einem leeren, dunklen Raum. Ich muss mich entscheiden, WAS ich sagen will. Und WIE ich es sagen will. Der schwierigste Teil der Kompositionsarbeit muss getan werden, bevor ich die erste Note schreibe.
Woher kommen dann die Impulse, die Ideen? Beginnt es mit klanglichen Vorstellungen oder konzeptuellen Gedanken? – Oder ist die Frage falsch?
Musik hat in meinem Leben jene Lücke gefüllt, die die verloren gegangene Religion hinterlassen hat. Sie kommt nicht aus einem Teilaspekt meines Lebens (meinem Beruf als Komponist), sondern sie ist quasi Bestandteil meiner Existenz. Den Prozess des Schaffens könnte ich am ehesten mit dem abgedroschenen Begriff „ganzheitlich“ beschreiben. Klangliche Vorstellungen oder konzeptuelle Gedanken – das ist wie Henne und Ei, das eine bedingt das andere. Auch die klangliche Vorstellung findet nämlich in einem Netz von Beziehungen statt: Die Melodie bedingt die Rhythmik, bedingt die Lautstärken, bedingt den Klang, bedingt die Form – Henne und Ei sind nur zwei Elemente, die Musik lebt aber in so etwas wie in einem komplexen System von mehreren Sonnen, die einander umkreisen.
Daniel Ender
Der Musikwissenschaftler und -journalist Dr. Daniel Ender verfasste Monographien über Richard Strauss und Beat Furrer sowie zahlreiche Aufsätze, lehrte an verschiedenen Universitäten und schreibt regelmäßig für den „Standard“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Seit 2015 arbeitet er für die Alban Berg Stiftung, seit 2018 als deren Generalsekretär.