Andreas Ottensamer steht mit beiden Beinen fest am Boden, das ist schon nach wenigen Minuten deutlich. Und er hat einen klaren Blick auf die eigene, privilegierte Existenz: „Ich bin seit März 2011 Soloklarinettist bei den Berliner Philharmonikern. Anders als die selbstständigen Künstler musste ich in der Pandemie keine Existenzängste haben. Diese Situation hat es mir erlaubt, die Zeit nicht nur verstreichen zu lassen, sondern produktiv nutzen zu können. Für mich war es eine Phase des Denkens und des Nachdenkens – eine Chance, um lernen und wachsen zu können.“ Und damit Auftrag und Verpflichtung zugleich. Denn er habe deutlich die große Verantwortung gespürt, sich auch wirklich entwickeln zu müssen.
Natürlich in musikalischer Hinsicht, aber auch unabhängig davon. „Meine Einstellung zum Leben, zur Umwelt hat sich verändert“, sagt er. „Kurz vor Ausbruch der Pandemie hatte ich innerhalb einer Woche auf drei Kontinenten gastiert. Heute würde ich sagen: So etwas ist unnötig. Das kann man auch nachhaltiger organisieren.“ 2019 schrieb die deutsche „BZ“ über ihn, die längste Zeit, die er in den vergangenen Jahren an einem Ort verbracht habe, seien zwölf Tage gewesen. Dieses atemlose Leben soll demnächst der Vergangenheit angehören, das hat er fest vor. Aber wie könnte die Lösung aussehen? Die Antwort kommt ohne Zögern: Verbindungen intensivieren, länger an einem Ort bleiben, mehrere Konzerte in einer Region geben. Nachgedacht hat er darüber offenbar längst. Andreas Ottensamer, der Realist. Sperenzchen machen, Sonderwünsche in die Welt hinausschreien – das mögen andere tun, seins ist das nicht.
An diesem Punkt müssen wir vielleicht doch kurz auf seine Biographie zu sprechen kommen, denn geformt und geprägt hat ihn natürlich das Elternhaus: Vater Ernst, der Soloklarinettist der Wiener Philharmoniker bis zu seinem überraschenden Tod vor dreieinhalb Jahren, und Mutter Cecilia, Celloprofessorin an der Musik und Kunst Privatuniversität. Der legendäre Musikkritiker Eduard Hanslick sprach von Wien einmal als „Stapelplatz für musikalische Wunderkinder“ – und was die Familie Ottensamer betrifft, lag er damit goldrichtig. Der erste Besuch des kleinen Andreas im Goldenen Saal? „Oh, da war ich zwei.“ Was es allerdings befördert habe: „Als Kind haben wir praktisch um die Ecke gewohnt. Hier in Berlin würde man sagen: Der Musikverein – das war mein Kiez.“
Musik zu machen sei für ihn so normal gewesen wie zu essen oder zu schlafen. „Erst in der Schule habe ich entdeckt, dass es Familien gibt, in denen nicht musiziert wird.“ Zunächst lernt er Klavier, mit zehn greift er zum Cello, dem Instrument der Mutter, mit zwölf zur Klarinette, dem Instrument des Vaters. Mit 19 fasst er den Entschluss, Profimusiker zu werden, mit 21 ist er Soloklarinettist der Berliner Philharmoniker. Seit seinem frühen Debüt bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 2006 ist er regelmäßig im Musikverein zu Gast („es gibt keine größere Ehre, als dort aufzutreten“).