„Seltsame Verirrungen“
Kein Blatt vor den Mund nimmt sich Ernst Woldemar, der 1828 in der Zeitschrift „Cäcilia“ beim späten Beethoven nur noch traurigen Niedergang konstatieren kann: „Allein ob sich ein Mann von eben so reicher, als excentrischer Einbildungskraft, wie Beethoven, dermassen in düstere, leere, trockene, plan- und geschmacklose Speculationen – mit der schönsten der Künste, mit der Musik, verliert, dass man nicht blos das Ruder des allgemeinen gesunden Menschensinnes, sondern selbst das seines eigenen früheren Verstandes darin vermisst; das hat allerdings sehr Viel zu bedeuten ...“ Woldemar ist damit nicht allein. Auch Carl Maria von Weber, der Beethoven durchaus verehrt, spricht von „seltsamen Verirrungen des Meisters in der neuesten Zeit“. Mit Erklärungen ist man rasch bei der Hand: Die fortschreitende Ertaubung sei schuld an diesen „Verirrungen“. Ein Gedankenexperiment sei gestattet. Existierten von Beethoven ausschließlich diese späten, schwierigen Werke – hätten sie sich auch so die Stellung im Konzertleben errungen, die sie heute besitzen? Oder wurden sie von den „Zugstücken“ der großen Symphonik „mitgezogen“? Spekulationen, die sich erübrigen, wenn wir die Vielgestaltigkeit dieses unglaublichen Lebenswerkes dankbar als den „ganzen Beethoven“ annehmen.
Thomas Leibnitz
Dr. Thomas Leibnitz ist Direktor der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.