Kein Anfang, kein Ende
Mit Bedacht hat Robert, so zeigt er mir, als Rahmen für „Ohne Sonne“ zwei Stücke aus den vielen Liedopera Tschaikowskijs gewählt, die etwa zur selben Zeit Mitte der siebziger Jahre entstanden sind, dazu einen bewegenden Gesang vom Chemieprofessor Borodin, von dem man als Komponist heute ebenso rühmend spricht wie vom Chemiker. Beide Meister sind Altersgenossen Mussorgskijs, Freunde, alle in Petersburg zu Grabe getragen. Tschaikowskij gibt, für ihn typisch, lyrische Szenen vor: „Ich habe nie mit ihr gesprochen“ – ein Liebesanfang, der auch das Ende ist. Die Liebe wird geträumt, nie ergriffen, und genau das sagt die sequenzgesteuerte musikalische Faktur. Berühmt das zweite Stück: „Inmitten des rauschenden Balls“ mit analoger Szenerie, wo das Lachen des geliebten, visionär geschauten Bildes in die Tränen des ewigen Verlusts umschlägt. Tschaikowskijs Ballszene schafft musikalisch in ihrem wiegenden Gestus jene Atomsphäre, die wir unvergleichlich aus Puschkins und Tschaikowskijs „Onegin“ kennen – ja, und so gibt Robert Holl auch dem großen Puschkin das letzte Wort in diesem Teil seines Programms mit Borodins „Zu den Ufern deiner fernen Heimat“, einem musikalischen Epitaph – für wen? Den Freund Mussorgskij, der 1881 starb. Puschkins Gedicht, eine herzzerreißende Trennungs-Ode, macht Borodin gleichsam, so entwickelt mir Robert Holl, zur Fortsetzung der Szene „Über dem Fluss“ aus Mussorgskijs „Ohne Sonne“, dieses Moments zwischen Leben und Tod. Wenn das Gedicht mit der Geste des Wartens auf „den letzten Kuss“ des Toten endet, dann heißt das: Leben und Tod werden nicht mehr unterschieden, in aller Elegie wird der Tod nicht als Trennung akzeptiert, sondern überwunden. Der Tote bleibt am Leben durch Gedächtnis und gewinnt so etwas wie „Unsterblichkeit“ – und da sind wir, macht Robert deutlich, mitten im Bewusstsein von Schostakowitschs gewaltigem Spätwerk, das zwar ein geschichtlich rabiates Jahrhundert von Mussorgskijs „Ohne Sonne“ trennt, dennoch seine Verwandtschaft kritisch nutzt: vom Ich zum Wir.