Marathon statt Sprint
Anders als bei vielen Kollegen hat es um Gerstein nie einen Hype gegeben (in dessen Natur es ja liegt, dass dieser auch wieder abebbt). „Semyon Bychkov hat mir einmal gesagt, eine lebenslange Karriere in der Musik sei kein Sprint, sondern ein Marathon“, sagt Gerstein dazu. Marketing-Gimmicks sind jedenfalls nicht seine Sache. Wer Gerstein je auf der Bühne erlebt hat, oft im schwarzen Rollkragenpulli, würde dies auch für abwegig halten. „Ich finde es wahnsinnig interessant, Klavier zu spielen, ich finde die Musik interessant, auch das Konzerterlebnis, die soziale Architektur des Ganzen. Selbst das Marketing, als eine Art Spiel. Aber man soll es nicht so ernst nehmen“, lautet dazu sein nüchterner Kommentar. Gerstein versucht jeden Tag, sich an ein meditatives Ritual zu halten, nämlich ans Klavier zu gehen, seine Gebete zu sprechen, sich selbst im Spiegel zu beobachten, um Ängste und Irritationen zu erkennen, um sie so zu bewältigen. Das Ziel: sich auf den Weg zu machen und sich zu verbessern. „Für mich hat das etwas sehr Grundlegendes an sich“, sagt Gerstein. „Es wäre eine Lüge zu sagen, dass ein Interpret sich nicht um ein gewisses Maß an öffentlicher Anerkennung und Bewunderung kümmert, aber das kann nicht der ultimative Grund für das Klavierspiel sein.“ In der Kunst geht es auch um Selbsterfahrung – des Ausübenden und der Zuhörer.