Logo Schriftzug Musikverein isolated dunkelblau


La Maestra

Ein neues Gesicht im Goldenen Saal: Die hochgelobte Dirigentin Elim Chan aus Hongkong steht in ihrem Musikvereinsporträt am Pult des ORF RSO Wien, der Wiener Symphoniker und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.

In Hollywood gibt es eine Redewendung, die mal Bette Davis, mal Mae West zugeschrieben wird: „Es braucht zehn Jahre, um über Nacht berühmt zu werden.“ Genau das könnte man auch über Elim Chan sagen. 2014 gewann sie den renommierten Donatella-Flick-Dirigierwettbewerb, was eine Assistenz beim London Symphony Orchestra mit sich brachte. Die Fachwelt war verblüfft. Aber sie selbst war es auch. „Es war wie im Märchen“, erinnert sich die 35-Jährige. „Wie die Aschenputtel-Geschichte: vom Niemand zum Jemand.“ Aber kein Niemand schafft es aus dem Nichts auf so ein Siegertreppchen. Zehn Jahre härtester Arbeit stecken immer dahinter, bisweilen auch 15 oder 20. Und das gilt auch für Elim Chan.

Als kleines Mädchen sprang sie im Atelier ihres Vaters herum, eines Malers. Sau-Nam Chang, mittlerweile im Ruhestand, porträtierte das alte, kantonesische Hongkong – das längst großteils abgerissen ist, um Platz für moderne Appartement-Hochhäuser und Business-Wolkenkratzer zu schaffen. „Er hat es geliebt, diese Orte zu besuchen und dort die alten Menschen zu treffen, sich ihre Geschichten anzuhören und währenddessen seine Skizzen zu machen.“ Um sie danach in seinem Atelier auszuführen. Immer mit klassischer Musik im Hintergrund.

„Wenn er das Atelier verlassen hatte, schlich ich mich hinein und schaute mir all die CDs an, die er liegengelassen hatte“, erzählt seine Tochter. Und legte sie erneut in den Player. So habe sie im Alter von fünf, sechs Jahren das erste Mal eine Polka von Johann Strauß gehört, aber auch Gustav Holsts „Planeten“. Sie tanzte dazu durchs Atelier, oft kurz vor dem Abendbrot. „Ein kleiner Moment, den ich ganz für mich allein hatte.“

Mit sieben wurde sie Mitglied eines Kinderchors, und sie begann mit Klavierstunden. „In Hongkong völlig normal, jedes Kind lernt ein Instrument“, erzählt sie. Die Eltern dort betrachten klassische Musik – auch – als probates Mittel, um ihrem Nachwuchs Disziplin und Durchhaltevermögen beizubringen.

„Es war wie im Märchen, wie die Aschenputtel-Geschichte: vom Niemand zum Jemand.“

Elim Chan

Der Beruf der Mutter? Angestellte der Stadtverwaltung. Sie sei ein sehr logisch denkender und rationaler Mensch, das komplette Gegenteil des Vaters. Und Elim Chan ist – so viel ist schon nach nur ein paar Minuten Videotelefonat klar – die perfekte Mischung aus beiden: nüchtern und strukturiert wie die Mutter, aber auch gefühlsbetont und leidenschaftlich wie der Vater. Nicht die schlechteste Voraussetzung für den Dirigentenberuf. Hinzu kommt ihre erkennbar große Freude an Kommunikation, Austausch und Kontakt.

Mit zwölf Jahren beginnt sie, Cellostunden zu nehmen. „Ich wollte unbedingt Teil eines Orchesters sein.“ An der Trompete war sie zuvor gescheitert: „Beim Spiel wurde ich fast ohnmächtig.“ Die Faszination fürs Orchester – woher kam die? „Mit neun oder zehn Jahren habe ich das erste Mal ein Konzert besucht. Es war ein Ausflug mit meiner Schule.“ Worüber sie hinterher einen Aufsatz schreiben musste. Es dirigierte Yip Wing-sie, von 1986 bis 2000 Chefin des Hong Kong Philharmonic Orchestra. Elims Aufsatz handelte von ihr. „Eines Tages will ich auch dort stehen, wo sie jetzt ist“ – „One day I want to be there“ lautet ihr letzter Satz. Dass eine Frau am Pult in den 90er Jahren noch eine eher seltene Erscheinung war? „Wusste ich nicht. Ich fand das ganz normal.“

Nach der Matura gewinnen zunächst die von der Mutter ererbten Anteile. „Es war ein Kampf zwischen Herz und Kopf“, erzählt sie. Und der Kopf macht das Rennen: Elim schreibt sich in Massachusetts für ein Medizinstudium ein. Schwerpunkte: Psychologie und Forensik. Nebenbei singt sie im Unichor. Doch die Wahl fühlt sich bald falsch an: In der Medizin fällt ihr alles schwerer als den anderen – und in der Musik alles leichter. „In der Medizin musste ich dreimal so viel tun wie meine Freunde und kam trotzdem nicht über einen gewissen Punkt hinaus. Ich hatte sehr schnell die Grenze erreicht.“
In der Musik ist das Gegenteil der Fall. Sie wird Assistentin des Unichor-Leiters. Mit 19, in einer Probe, darf sie statt seiner das „Dies irae“ des Verdi-Requiems dirigieren. Ein inneres Erdbeben ist die Folge. Sie weiß: Das ist meins. Nach drei Jahren fasst sie sich ein Herz und wechselt das Studienfach. 2007 macht sie ihren Bachelor of Arts, danach einen Master of Conducting, und 2014 erwirbt sie noch ein Doktorat in Dirigieren.

Im gleichen Jahr siegt sie aber auch beim eingangs erwähnten Donatella-Flick-Wettbewerb – und seitdem geht es Schlag auf Schlag: Zur Saison 2015/16 ist sie in London und 2016/17 als Teilnehmerin des Dudamel Fellowship Programe in Los Angeles. Seit 2018 hat sie einen Vertrag als Erste Gastdirigentin des Royal Scottish National Orchestra, 2019 übernimmt sie die Position der Chefdirigentin beim Antwerp Symphony Orchestra. Und wird so innerhalb weniger Jahre eine jener jungen Dirigentinnen, auf die die Welt zu schauen beginnt.

Heute wohnt sie in Amsterdam. Ihr Leben teilt sie mit einem niederländischen Percussionisten. Alles in bester Ordnung also? „Ja“, sagt sie. Fügt aber nach einer kleinen Pause noch einen Halbsatz an: „Jetzt wieder.“ Und erzählt von schwierigen Monaten im Jahr 2017. Denn so glatt und bruchlos verlief ihre Karriere dann doch nicht. „Bis dahin hatte ich immer alles angenommen. Aber dann erreichte ich diesen Punkt, an dem nichts mehr ging.“ Sie wurde krank, bekam eine Erkältung. „Aber ich ignorierte sie, weil ich Verpflichtungen hatte. Ich flog von Amerika nach Europa und weiter nach Asien.“ Und dann: plötzliches, hohes Fieber. „Als ich in Hongkong landete und eigentlich weiter wollte nach Vietnam, bekam ich auf einmal keine Luft mehr.“ Die Diagnose: Lungenentzündung. Ansteckend.

„Die Krankheit stoppte mein Leben.“ Drei Wochen lag sie isoliert in der Klinik, sechs Wochen konnte sie nicht sprechen. Am Ende brauchte sie sechs Monate, um wieder gesund zu werden. „Ich habe meine Lektion auf die harte Tour gelernt“, sagt sie heute. Was bedeutet: Seitdem ist sie nie länger als drei Wochen am Stück fort aus Amsterdam. Aber sie passt seitdem auch besser auf sich auf – und sie setzt Grenzen.

Und jetzt: die Einladung der Gesellschaft der Musikfreunde – für ein eigenes Porträt im Programm des Musikvereins. In der ersten Sekunde habe ihr der Mund offen gestanden, so überwältigt sei sie gewesen. Was für eine Ehre! „Das war ein Schock. Aber ein wunderbarer.“ Ihr Österreich-Debüt wird sie also am 14. Oktober im Großen Musikvereinssaal und an der Seite von Gidon Kremer geben.

Vier Konzerte werden es insgesamt sein – zwei mit Víkingur Ólafsson und eines mit Truls Mørk kommen noch hinzu. „Der Musikverein und ich haben alle Programme gemeinsam entwickelt, und bei den Solisten wurde ich nach meinen Wünschen oder Vorlieben gefragt.“ Gidon Kremer? „Er ist der Champion, und er hat Zeit – was für ein Geschenk! Und wenn er dann mit dem ‚Offertorium‘ noch ein Werk spielt, das extra für ihn geschrieben wurde – da sagt man als Dirigent sofort und begeistert ‚Ja‘.“

Víkingur Ólafsson? „Ihn habe ich selber vorgeschlagen. Für mich ist er derzeit einer der besten Botschafter meiner Generation für klassische Musik. Und sein Spiel ist …“ – sie sucht nach Worten – „… überwältigend.“ Truls Mørk? „Der Gott des Cellos. Wenn er spielt, tritt er vollständig hinter die Musik zurück. Auch ihn habe ich mir sehr gewünscht, und ich freue mich, dass der Musikverein das realisieren konnte.“

Wir sprechen über die Werke, die an den vier Abenden auf dem Programm stehen werden, über die Komponisten, auch über Lieblingskomponisten. Sie erwähnt Schostakowitsch („Ich liebe russische Musik und das Drama, das sie hat“) und dass sie sich Brahms („Lange habe ich Angst vor ihm gehabt“) erst über den Umweg Rachmaninow nähern konnte. Welche Werke sie auf eine einsame Insel mitnehmen würde? „Im Augenblick: Brahms’ Symphonien.“

Neben all den guten Eigenschaften, die sie besitzt – Fleiß, Disziplin, Humor, Selbstironie, Durchsetzungsfähigkeit, Furchtlosigkeit –, bleibt am Ende vor allem eine im Gedächtnis: Elim Chan ist nicht nur selbstbewusst – sie ist sich ihrer selbst bewusst. Im sehr wörtlichen Sinn und so vollendet, wie es nur wenige Menschen sind.

Ein Text von Margot Weber.

Musikverein Wien, roter Teppich, Stiegenaufgang zum Grossen Saal und Brahmssaal

Jewgenij Kissin

In seinen Porträtkonzerten, die Jewgenij Kissin 2022/23 für die Gesellschaft der Musikfreunde gestaltet, legt der Meisterpianist ein leidenschaftliches Bekenntnis für Sergej Rachmaninow ab. Starke Emotionen, die nach den Phasen der Stille umso tiefer wirken.

Musikverein Wien, Innenaufnahme, Grosser Saal, Goldener Saal, Architektur, Orgel, Sitzreihen, Bestuhlung, Deckengemälde

Isabelle Faust

Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien widmet Isabelle Faust ein Porträt, in dem sich die deutsche Geigerin in fünf Programmen höchst facettenreich präsentiert: als Solistin mit Orchestern der modernen und der historischen Praxis, als Kammermusikerin, in einem Konzert für Geige und Gesang und in einen Soloabend mit der Barockgeige.

Musikverein Wien, Innenaufnahme, Grosser Saal, Goldener Saal, Architektur, Orgel, Sitzreihen, Bestuhlung, Deckengemälde

Igor Levit

Nach dem starken Akzent, den Igor Levit im Musikverein Festival 2022 setzt, widmet ihm die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 2022/23 ein umfassendes Porträt.

Musikverein Wien, roter Teppich, Stiegenaufgang zum Grossen Saal und Brahmssaal

Lorenzo Viotti

Lorenzo Viotti, 1990 geboren, gehört in Oper und Konzert zu den meistgefragten Dirigenten seiner Generation. Ihm selbst geht es freilich weniger darum, gefragt zu sein, als vielmehr die richtigen Fragen zu stellen.

0%