Sie hätten am 16. Mai 2020 im Musikverein gehört: „Kärnten – höchst persönlich“ …
Sehnsuchtsland Kärnten
Kärnten – das liebste Urlaubsland aller jener Österreicher, denen Mallorca zu billig und Ibiza zu gefährlich ist; das Land, wo (fast) alle begeistert singen und dafür zwar bisweilen den Text der „hohen“ Strophen, aber keine Noten brauchen; das Land, dessen Berge ein „Eho“ zurückwerfen und dessen Einwohner besonders gerne „låhen“. Um das alles in Erinnerung zu rufen, hätte heute im Gläsernen Saal ein „Kärntner Abend“ mit Max Müller stattgefunden, der, am Klavier von Tonč Feinig begleitet, sowohl Kärntnerlieder als auch sogenannte „Ernste Musik“ von „Kärntner Sommergästen“ vorgetragen hätte.
Wir wissen nicht, ob bereits die Kärntner der Altstein-Zeit (der erste namentlich dokumentierte hieß bekanntlich „Orang Utnigg“), die in einer Höhle bei Griffen eine Höhlenbärjäger-Station unterhielten, ihre Trink- und Liebeslieder mehrstimmig gesungen haben, doch ist die Vier- sowie Fünfstimmigkeit seit Urzeiten „das“ Typische am Kärntnerlied: Die Melodie liegt meist nicht in der Oberstimme, sondern darunter, die Oberstimme singt den „Überschlag“, der Bass gibt das harmonische Fundament, und ein bis zwei Stimmen ergänzen den Satz. Bei dem geplanten solistischen Vortrag hätte wohl das Klavier die „Begleitstimmen“ übernommen.
Max Müller hätte auch „Kärntner Lyrik“ vorgetragen, „von Bachmann bis Rudnigger“, wobei das angekündigte „von – bis“ nur die Lebensjahre 1921–1984 umfasst hätte. Kärntner Dichter gab es aber bereits im römischen „Noricum“, im slawischen Karantanien sowie in den Jahrhunderten unter bayerischer, tirolerischer, habsburgischer, französischer oder österreichischer Oberhoheit; auch hier gibt es einen archivalisch erfaßten ersten Dichter, „Orang Utnigger“ mit Namen. Ein weiterer „früher“ Kärntner Dichter war der im 12. Jahrhundert lebende Hermann von Carinthia, der aber, als wirklich Gebildeter, seine Werke (u. a. „De indagatione cordis“, Von der Erforschung des Herzens) in lateinischer Sprache verfasste und daher den „echten“ Kärntnerinnen und Kärntnern als „globalisiert“ und somit suspekt erscheint. Und auch der noch ins 19. Jahrhundert zurückreichende Kärntner Robert Musil (aus der Konditor-Dynastie) ist durch seinen „Mann ohne Eigenschaften“ nicht positiv konnotiert – die „heilige“ k. u. k. Monarchie „Kakanien“ zu nennen und keineswegs positiv zu sehen ist für die am liebsten über Prinzessinnen schreibende Regenbogen-Presse auch heute ein Sakrileg.
Ein „Kärnten-Fan“ war Johanns Brahms, der die Sommermonate der Jahre 1877 bis 1879 in Pörtschach verbrachte: „Hier ist es allerliebst, See, Wald, darüber blauer Bergebogen, schimmerndes Weiß im reinen Schnee [...].“ In Pörtschach schrieb er seine 2. Symphonie, das Violinkonzert, Klavierstücke sowie seine erste Klavier-Violin-Sonate (op. 78). – Gustav Mahler hinwiederum ließ sich 1900/01 in Maiernigg sowohl eine „Sommerresidenz“ als auch im nahen Wald ein „Komponierhäuschen“ erreichten, wo er bis 1907 seine „Vierte“ vollendete sowie die Symphonien Nr. 5, 6, 7 und (zum Teil) 8 verfasste. Und als er mit dem Ruderboot von Krumpendorf nach Maiernigg übergesetzt wurde, fiel ihm „bei den ersten Ruderschlägen das Thema oder vielmehr der Rhythmus und die Art der Einleitung zum 1. Satz der 7. Symphonie ein“. In Maiernigg starb allerdings auch im Juli 1907 seine (viereinhalbjährige) Tochter Maria, die zunächst auf dem Friedhof in Keutschach beerdigt wurde.
Ein weltweit berühmtes Lied eines Kärntners, „17 Jahr, blondes Haar“, das die geheimen Sehnsüchte nicht nur aller Kärntner in Worte „kleidet“, leitet uns zu einem weiteren zu „behandelnden“ „E-Musik“-Komponisten, zu Alban Berg. Bei ihm, dem berühmtesten „Seitenspringer“ der Musikgeschichte, drehte sich die Aussage allerdings um. Denn er schwängerte als 17-Jähriger ein im Kärntner „Berghof“ der Familie tätiges 32-Jähriges Küchenmädchen und bekannte sich dann aus „bürgerlicher“ Scham nur „sehr privat“ zu seiner Tochter Albine („Bienchen“). Als dann 1935 Alma Mahler-Werfels extrem hübsche Tochter Manon Gropius 18-jährig starb, widmete er ihr sein Violinkonzert: „Dem Andenken eines Engels“. Das dort eingebaute Kärntnerlied „A Vögale af’n Zwetschgm-Bam“ mit den Worten „sist hiatt i verschlåfn in da Miazale ihrn Bett“ weist aber nicht zuletzt auf die tatsächlich „Marie“ (Miazale) heißende erste Geliebte des Komponisten, der er ja auch mit der „Marie“ seiner Oper „Wozzeck“ ein musikalisches Denkmal setzte.
Ein (zumindest teilweise) „echter“ Kärntner war Anton Webern. Sein Urgroßvater heiratete eine aus Bleiburg stammende Kärntnerin, sein Großvater ebenfalls; und dessen Frau brachte den Besitz „Preglhof“ bei Schwabegg unweit von Bleiburg in die Ehe ein, der dem Komponisten bis 1912 als Rückzugsort für schöpferisches Arbeiten diente. Da Weberns Vater 1894 beruflich nach Klagenfurt versetzt wurde, besuchte Webern dort das humanistische Gymnasium, wurde Mitglied des Klagenfurter Konzertvereins-Orchesters (mit dem er sogar Beethovens 9. Symphonie aufführte) und schrieb seine ersten Kompositionen nieder. Und auch nach 1912 fand er immer wieder in Klagenfurt Inspiration und Muße für seine kompositorischen Arbeiten: „Da in Kärnten ist’s doch noch viel besser [...] Ich bin wieder gut im Komponieren drin.“
Negative Erinnerungen an Kärnten hatte hingegen zeitlebens der im südsteirischen Windischgraz (Slovenj Gradec) geborene Hugo Wolf, der von 1871 bis 1873 Schüler des Stiftsgymnasiums von St. Paul war, dort aber an dem (allzu „grammatik-hörig“ betriebenen und wohl Ovids „ars amandi“ ausklammernden) Fach Latein scheiterte; allerdings versagte er dann auch in dem Gymnasium der südsteirischen Stadt Marburg (Maribor). – Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass zahlreiche zeitgenössische Komponisten wie z. B. Nikolaus Fheodoroff, Dieter Kaufmann, Werner Pirchner und Bruno Strobl entweder Kärntner waren bzw. sind oder zumindest viele ihrer Inspirationen aus dem „musikschwangeren“ Ambiente jenes Sehnsuchts-Landes empfingen.
Hartmut Krones