Musikverein Festival: Courage! 2023/24
„Ich glaube: Kunst kommt nicht von können, sondern vom Müssen“: So hat es Arnold Schönberg schon 1910 festgehalten. Drei Jahre später, am 31. März 1913, sollte dieses Müssen, also die innere Notwendigkeit des künstlerischen Tuns, zu einem Skandal im Wiener Musikverein führen. Unter Schönbergs Leitung will der Wiener Concert-Verein, der Vorläufer der Wiener Symphoniker, Werke von Schönberg selbst, Alexander Zemlinsky, Anton Webern und Alban Berg aufführen; zu Gustav Mahlers „Kindertotenliedern“ wird es freilich nicht mehr kommen.
Plakat „Skandalkonzert“ in den Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien © Wolf-Dieter Grabner
Erklärte Anhänger wie auch Gegner der Schönberg-Schule sowie viele Laien treffen aufeinander, denn der Architekt Adolf Loos hat wegen des schlechten Verkaufs einen Schwung Karten erstanden und wahllos an Passanten verschenkt: Das ergibt eine explosive Mischung. Der Kampf zwischen Pfiffen, Zischen, Applaus und Jubelrufen führt, trotz oder gerade wegen Schönbergs Ordnungsrufen, zu Duellforderungen und Prügeleien mit gerichtlichem Nachspiel. Der sensible Alban Berg ist verstört, dass der Tumult ausgerechnet während seiner „Altenberg-Lieder“ uneindämmbar wird und die streitenden Parteien nur noch durch das Löschen des Saallichts zur Räson zu bringen sind. Der Komponist Oscar Straus gibt später zu Protokoll, das Klatschen der Ohrfeigen sei noch das Melodiöseste des Abends gewesen …
Dieses legendäre „Watschenkonzert“ ist Dreh- und Angelpunkt des Musikverein Festivals „Courage!“ – aber nicht wegen seiner historischen Bedeutung als Mutter aller Musikskandale, sondern wegen der Haltung, die Schönberg und Co in ihrer Musik gezeigt haben. Das eigene künstlerische Müssen zu erkennen und in die Tat umzusetzen, es gegen Widerstände von Publikum und Kritik zu verwirklichen, von akademischer Seite wie von den Ausführenden: Dazu gehört schon ein gerüttelt Maß an Mumm. „Tapfere sind solche, die Taten vollbringen, an die ihr Mut nicht heranreicht“, heißt es denn auch in Schönbergs Vier Stücken op. 27 – eine durchaus autobiographische Erkenntnis. Die Komponisten des einstigen Skandalabends bilden einen Strang im Programm des Musikverein Festivals „Courage!“, in dem dann auch wichtige Werke von Schönberg aufgeführt werden. Das Monodram „Erwartung“ mit Dorothea Röschmann und den Wiener Symphonikern, „Verklärte Nacht“ mit Mitgliedern der Wiener Philharmoniker sowie die beiden Kammersymphonien (Ensemble Kontrapunkte; Deutsche Kammerphilharmonie; Altenberg Trio) zählen dabei zu den Höhepunkten.
Der Frage nach der mutigen Haltung von Tonschöpfern und ihren Werken wird aber auch in näherer wie fernerer Musikgeschichte nachgegangen: Wer zeigte Courage in der Kunst mit kühnen Neuerungen, wer als Mensch in schlimmen Zeitläuften? Ludwig van Beethoven ist dabei nicht der Erste, aber eine der prominentesten historischen Figuren. Wiener Philharmoniker und Wiener Singverein zelebrieren zusammen etwa zwei alle Konventionen sprengende Monumentalwerke: unter Riccardo Muti die Neunte, unter Herbert Blomstedt die „Missa solemnis“. Ihrer weltumspannenden Freudenund Liebesbotschaft notwendig voraus gehen explizit politisch aufgeladene Symphonien wie die auf Napoleon bezogene „Eroica“ (Wiener Symphoniker / Karina Canellakis) und die Fünfte mit ihrem Durchbruch zum Revolutionsfinale sowie auch die Schauspielmusik zu Goethes „Egmont“ (Orchester Wiener Akademie / Martin Haselböck / Thomas Hampson), deren Held im Freiheitskampf der Niederländer gegen das spanische Joch für seine Überzeugung in den Tod geht.
Wieder liefert ein Objekt aus den unschätzbar reichen Sammlungen des Musikvereins Impuls und Inspiration für das Musikverein Festival: ein historisches Originalplakat, das sich mit einem spektakulären Ereignis der Musikgeschichte verbindet. Was für den 31. März 1913 als „Großes Orchester-Konzert“ mit dem Dirigenten Arnold Schönberg angekündigt worden war, ging als „Skandalkonzert“ in die Geschichte ein. Hinter dem Tumult aber steckte die Konsequenz einer künstlerischen Haltung. Sie machen wir in diesem Festival zum Thema: Courage!
Ihren radikalen Ansprüchen waren Anton Bruckner und Gustav Mahler treu geblieben: Die Fünfte Symphonie, sein „kontrapunktisches Meisterstück“, hat Bruckner nie in originaler Orchestergestalt hören können; Mahler hat in seiner Dritten, in Fortführung von Beethovens Neunter, „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“ wollen. Beide Werke stehen mit dem Concertgebouworkest unter Klaus Mäkelä auf dem Programm.
Mut war in Zeiten von Diktatur, Krieg und allgemeiner Unmenschlichkeit vonnöten, von den vielfältigen Opfern der Nazis, die von Glück reden konnten, wenn sie „nur“ um Stellung, Besitz und Heimat gebracht wurden, in unzähligen Fällen jedoch als Ermordete geendet haben. Just 1933, als im Zuge von Hitlers „Machtergreifung“ ein Gutteil von Paul Hindemiths älteren Werken sogleich als „kulturbolschewistisch“ verboten wurde, nahm diesen Komponisten die Arbeit an der Oper „Mathis der Maler“ gefangen: Die Titelfigur ist hin- und hergerissen zwischen künstlerischer Berufung und der Verpflichtung, in den politisch-religiösen Wirren seiner Zeit Haltung zu zeigen und zu kämpfen – damals ein ebenso brandaktuelles wie prekäres Sujet (Wiener Symphoniker / Joana Mallwitz). Hindemith sollte in die Emigration gehen, so wie Béla Bartók, der in einem „Räuber- und Mördersystem“ nicht arbeiten konnte und wollte. Dessen kühner „Wunderbarer Mandarin“ (ORF RSO Wien / Peter Eötvös) war 1926 in Köln nach Diffamierungen als „Dokument geistiger Pervertierung“ und „Hottentottenkralsmusik“ verboten worden … Sich zu verbiegen und seiner künstlerisch-humanistischen Vision untreu zu werden, das kam für Bartók nicht in Frage. Keine Wahl hatten freilich jene Menschen, die in KZs inhaftiert wurden: Theresienstadt ist Synonym geblieben für ein reges Kulturleben unter schlimmsten Umständen, in der letzten Sammel- und Durchgangsstation auf dem Weg in den systematischen Massenmord. Und doch wählten Viktor Ullmann, Gideon Klein, Erwin Schulhoff und viele andere trotz unsäglicher Bedingungen die Menschlichkeit, sorgten für musikalische Gemeinschaftserlebnisse – und zeigten damit Haltung.
Ein Konzert von Studierenden der MUK wird diese besondere Form der Courage vergegenwärtigen. Ein weiteres Konzert, ebenfalls im Gläsernen Saal, findet als Koproduktion des Musikvereins mit Exilarte, dem Zentrum für verfolgte Musik, statt. Sein Thema lautet explizit: „Courage – Musik im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“.
Auch unter den Pressionen der totalitären Sowjetunion war Mut gefordert. Dmitrij Schostakowitsch galt einerseits als internationaler Vorzeigekomponist, gerade während des Zweiten Weltkriegs und des Kampfes der Roten Armee gegen Hitler. Er musste sich jedoch andererseits mehrfach vom Stalin-Regime maßregeln lassen, bis hin zur drohenden Gefahr für Leib und Leben. Masken und doppelte Böden bestimmen deshalb Schostakowitschs Musik, in der die Anklage gegen das kommunistische Mördersystem verschlüsselt und doch spontan verständlich auftritt (Netherlands Radio Philharmonic Orchestra / Karina Canellakis; Wiener Philharmoniker / Andris Nelsons). Anhand von Werken seines lange vergessenen, knapp dem Terror entronnenen Freundes Mieczysław Weinberg (Studierende der mdw) sowie zweier unbeugsamer Komponistinnen kommen noch mehr Facetten der Courage hinter dem Eisernen Vorhang zum Klingen. Die eine ist Galina Ustwolskaja, die bei ihrem Tod 2006 im Alter von 87 Jahren nur ein schmales OEuvre von rund zwei Dutzend gültigen Werken hinterließ. Alles andere hat sie vernichtet oder mit der eisigen Aufschrift „für Geld“ versehen: Gebrauchsmusik, die ihre finanzielle Not im Kommunismus lindern half. Ihr wahres Schaffen hielt sie dagegen rein von äußeren Beweggründen: Es sollte nur auf innerer Notwendigkeit fußen, erfüllt „von religiösem Geist“.
Das berührt auch das Schaffen der anderen, Sofia Gubaidulina: Durch den tatarischen Großvater, einen Mullah, zunächst islamisch geprägt, wandte sie sich dem russisch-orthodoxen Glauben zu und stand schon dadurch quer zur offiziellen künstlerischen Doktrin der UdSSR. Emphase, Expression, Transzendenz prägen ihre Musik. Werke dieser beiden Komponistinnen werden im „Nachklang“ zu Festival-Konzerten zu hören sein. Haltung zeigt sich aber auch anderswo und ist heute nicht minder notwendig: Harri Stojka etwa schafft es, als einer der vielseitigsten heimischen Jazzmusiker zugleich für die Rechte und die Sichtbarkeit der Roma einzutreten. Die iranische Komponistin Rojin Sharafi überschreitet mutig Grenzen. Und für die Jüngsten im Musikverein gibt es etwa nicht nur Begegnungen mit Schönbergs Märchen, sondern auch die humorvoll-kritische Frage nach Heldinnen und Helden von einst und jetzt: Courage!
Ein Text von Walter Weidringer.