Der Kapellmeister
Seit mehr als 20 Jahren sorgt Christian Thielemann mit seinen Auftritten für unbestrittene Höhepunkte im Musikverein. 2022/23 widmet ihm die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien einen eigenen Zyklus.
„Er dirigiert nur noch mit sich selber um die Wette!“
Ein internationaler Schalplattenmanager über Christian Thielemann
Die Wiener Philharmoniker haben ja bekanntlich keinen Chefdirigenten. Wäre in der jüngeren Vergangenheit dennoch einer zu wählen gewesen, das Ergebnis wäre bestimmt ziemlich eindeutig ausgefallen: Christian Thielemann und das Wiener Meisterorchester verbindet eine Art musikalischer Liebesbeziehung. Da geht es dem Orchester wie vielen, sehr vielen österreichischen Musikfreunden. Der Mann aus Berlin hat die Herzen erobert, obwohl – oder vielleicht sogar gerade weil er jeglicher Show abhold ist.
Thielemanns Erscheinung widerspricht dem zuletzt gewohnten Bild vom geradezu choreographisch um die optische Ausdeutung der Musik bemühten „Musikdarsteller“ am Dirigentenpult. So, pardon, unattraktiv, so ganz und gar auf sein Handwerk konzentriert wirkte zuletzt vielleicht Karl Böhm. Die Assoziation kommt für alle, die sich noch daran erinnern können, nicht von ungefähr: Auch Böhm war, wie heute Thielemann, eine unangefochtene Instanz am Pult, gefürchtet ob seiner guten Ohren und seiner intimen Partiturkenntnis, aber geliebt nicht nur vom Publikum, sondern auch von seinen Musikern, weil unter seiner Leitung die Musik zwar sorgfältig einstudiert wurde, dann aber auf unvergleichlich natürliche Weise, fast „wie von selbst“ erklang.
Das Wort Dirigent kommt einem Christian Thielemann als Berufsbezeichnung nie über die Lippen. Er nennt sich Kapellmeister und betrachtet das als Ehrentitel. Über den Zauber, der sich ganz offenkundig ereignet, wenn er seinen Taktstock hebt, lässt sich freilich in handwerklich-trockenen Begriffen nicht erzählen. Da springt stets der sprichwörtliche Funke über. Das ist wahrlich nicht bei jedem Kapellmeister so. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Die Geschichte der Wiener Landnahme des Berliners Thielemann begann im Übrigen alles andere als märchenhaft. Verehrer des Künstlers datieren seinen „Durchbruch“ gemeinhin mit Oktober 2000. Damals leitete er ein Richard-Strauss-Programm der Wiener Philharmoniker. Für die Zuhörer war das vielfach Liebe auf den ersten Ton. Es schien auch für die Musiker so zu sein, die Thielemann in der Folge immer wieder ans Pult baten und zahlreiche CD- und DVD-Aufnahmen mit ihm machten. Doch die Wahrheit ist, wie so oft, weniger feuilletonistisch und schlagzeilenträchtig. Vielleicht konnten sich die Mitglieder des Orchesters im Jahr 2000 gar nicht daran erinnern, aber Christian Thielemann hatte sie in ihrer Eigenschaft als Orchester der Wiener Staatsoper schon des Öfteren dirigiert. Sein wirkliches Wien-Debüt firmiert unter dem 19. November 1987 in den Annalen des Hauses am Ring. „Così fan tutte“ stand auf dem Programm, und das wirkt im Rückblick doch ziemlich erstaunlich, denn mit dem Namen Mozart assoziiert die Musikwelt Thielemann nicht unbedingt. Der 29-Jährige konnte damals allerdings keineswegs frei wählen. Er war ein aufstrebendes Talent, das zugriff, wenn ein Angebot kam. Es kam, denn immerhin hatte ihm sein großes Vorbild Herbert von Karajan wohlwollende Empfehlungsworte auf den Weg mitgegeben.
Wer die Hintergründe kannte, hörte schon damals genauer zu, denn Karajan empfahl den jungen Mann sozusagen aus Protest; und zwar gegen die Entscheidung der Juroren jenes Dirigentenwettbewerbs, der immerhin seinen Namen trug. Karajan war, anders als die „Fachleute“, höchst beeindruckt von der Probenarbeit seines ehemaligen Assistenten und prophezeite ihm eine große Zukunft. Die Prophetie hat sich, wie wir längst wissen, erfüllt. Allerdings mit einem Verzögerungseffekt. 1988 hatte Thielemann gerade von seinem Kapellmeisterposten in Düsseldorf als Generalmusikdirektor nach Nürnberg gewechselt, wo er keinen Zweifel daran ließ, wo seine Vorlieben lagen. Gegen heftige Widerstände boxte er sogar eine Neuproduktion von Hans Pfitzners „Palestrina“ durch, was Kenner auch jenseits Deutschlands neugierig machte. Es folgte sogar eine kleine „Palestrina“-Renaissance, die Thielemann mit dieser Oper bis nach London und New York führen sollte. In dem Jahrzehnt, das dazwischen lag, verbreitete sich der Name des Künstlers wie ein Lauffeuer, und Thielemann wurde musikalischer Chef der Deutschen Oper in seiner Heimatstadt.
Von diesem Zeitpunkt an wussten die Hellhörigen immer, wo dieser Künstler gerade was dirigierte, und man las die oft angriffigen Kommentare über den deutschen Dirigenten mit der Vorliebe für das deutsche Repertoire in den deutschen Medien. Das internationale Publikum liebte Thielemanns Wagner- und Strauss-Aufführungen vom ersten Moment an. Als er im Sommer 2000 mit den „Meistersingern von Nürnberg“ bei den Bayreuther Festspielen debütierte, war er bereits eine lebende Legende. Als erstem und einzigem Dirigenten seit Arthur Nikisch gelang es ihm in der Folge, alle zehn vom Komponisten für seine Festspiele kanonisierten Musikdramen in Bayreuth einzustudieren. Von den Wagner-Festspielen war er nicht mehr wegzudenken.
Aus dem Wiener Musikverein desgleichen. Mehr als 100 Einträge umfasst das Register des Goldenen Saals, Thielemann betreffend, mittlerweile. Es ist also Zeit für den ersten Thielemann-Schwerpunkt der Gesellschaft der Musikfreunde, dessen Programmfolge naturgemäß das unverwechselbare Thielemann-Repertoire widerspiegelt.
Von den vier geplanten Programmen bestreitet drei die Sächsische Staatskapelle Dresden, deren künstlerischer Leiter Thielemann bis 2024 ist. Das Spektrum reicht von Beethoven über Gustav Mahler bis zu Richard Strauss, dessen Schaffen neben dem Richard Wagners zentral in Thielemanns Repertoirekanon steht. Von Strauss hat er nicht nur die meisten Opern im Repertoire, sondern auch eine erstaunliche Anzahl symphonischer Kompositionen. Die beliebten Tondichtungen zwischen dem „Don Juan“ und der „Alpensymphonie“ sowieso (diesmal erklingen „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ und „Tod und Verklärung“), aber auch echte Raritäten bis hin zur „Japanischen Festmusik“. Zu den Entdeckungen für Straussianer gehören auch die Aufführungen von Vokalwerken. Immer wieder bittet Thielemann prominente Sänger zu sich aufs Podium, um etwas aus dem reichen Erbe der Strauss’schen Orchesterlieder oder Fragmente aus Opern konzertant darzubieten.
Im Musikverein wird am 17. Juni Diana Damrau erwartet.
Gesungen wird auch tags darauf zum Finale des Thielemann-Schwerpunkts. Da erklingt Gustav Mahlers Dritte, die längste Symphonie des großen Repertoires. Zur Musik dieses Komponisten hat Christian Thielemann spät gefunden, doch kommt ihm die geradezu märchenhafte Erzählstruktur dieses Werks besonders entgegen. Da kann der Opernkapellmeister ein Musikdrama zum Hören „inszenieren“, der „Sommer marschiert ein“, heißt es in Mahlers „Regieanweisungen“ unter anderem, und die Musik belauscht „Was mir die Blumen auf der Wiese“ oder „die Tiere im Wald erzählen“, ehe das Werk in die Abgründe der menschlichen Seele leuchtet, um zuletzt in einen etwa halbstündigen Adagio-Hymnus zu münden: „Was mir die Liebe erzählt“.
Diesem symphonischen Kosmos setzt der Dirigent am Pult der Wiener Philharmoniker (26. Februar sowie 25. Februar im Zyklus Meisterinterpreten III) die inhaltlich und dem Umfang nach nicht weniger ehrgeizige Achte Symphonie Anton Bruckners entgegen. Die Philharmoniker haben nicht ohne Grund Christian Thielemann gewählt, um das erste Mal in ihrer Geschichte sämtliche Bruckner-Symphonien für CD und DVD aufzunehmen. Die Arbeit geht mit diesen Konzerten, die live mitgeschnitten werden, zu Ende. Gerade die Bruckner-Aufführungen dieses Künstlergespanns empfanden die Musikfreunde als tief und erfüllend. Es war die Achte, nach deren überwältigender Wiedergabe durch die Philharmoniker unter Thielemann im Musikverein anno 2007 ein internationaler Schallplattenmanager zu den Umstehenden meinte: „Er dirigiert nur noch mit sich selber um die Wette!“
Nicht nur insofern fordert sich Christian Thielemann mit seinem Musikvereins-Zyklus diesmal also selbst heraus. Auch was Beethoven betrifft, können Wiener Musikfreunde Vergleiche ziehen: Mit den Wiener Philharmonikern hat Thielemann ja schon vor dem Beethoven-Jahr alle neun Symphonien auf CD und DVD aufgenommen. Nun hebt am 12. September der Künstler-Schwerpunkt mit der Siebenten und Achten Symphonie, gespielt von der Sächsischen Staatskapelle Dresden, an. Das Publikum fungiert bei solchen Wetten gern als Schiedsrichter …
Ein Text von Wilhelm Sinkovicz.
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